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Warum ausgerechnet ich?

Kaum etwas ist trauriger als ein Karate-Meister mit Rückenschmerzen.

 

Neben dem Schmerz, den niemand braucht und haben will, quält ihn die Frage, warum es ausgerechnet ihn getroffen hat.

„Ich mache doch mein Leben lang Sport und jetzt auch noch Faszien-Yoga“, beklagt er sich bei mir. “Warum kriege ausgerechnet ich einen Bandscheibenvorfall?“

Der normale Couch-Potatoe glaubt, er selbst könne gegen den Rückenschmerz gar nichts unternehmen. Beim Sportler ist es

meistens umgekehrt. Er glaubt unerschütterlich an eigene Aktivität und Spontanheilung. Das hört sich erstmal wie eine gute Bewältigungsstrategie an.

Meinem Karatemeister versuche ich zu erklären, dass nicht wenige Leute einen Bandscheibenvorfall erleiden, und dass die meisten davon gar nichts merken, weil ein Bandscheibenvorfall nur in den wenigen Fällen Schmerzen verursacht,

in denen er dummerweise mit einem Nerven zusammenstößt.

 

Ich zitiere Prof. Krämer, den Bandscheibenpapst der neunziger Jahre und erkläre, dass die Bandscheibendegeneration

eine normale Begleiterscheinung des Alterns ist. Das macht ihn auch nicht glücklicher, weswegen ich weiter aushole:

Es gibt kaum eine bessere Anleitung zum Unglücklichsein über die Krankheit, die einen befällt, als die Frage: „Warum ausgerechnet ich?“

 

Denn meistens impliziert diese Frage, dass man erstens so gesund gelebt und alles richtig gemacht hat, dass man eigentlich gar nicht krank werden kann, und dass zweitens die Krankheit genau aus diesem Grund eine grobe Ungerechtigkeit darstellt.

Wer diesen Gedanken nicht wieder einpackt oder in den Griff bekommt, kann die Folgen seiner Krankheit nur noch mit Mühe beherrschen, denn er hadert dauerhaft mit seinem Schicksal. Das gilt für Rückenschmerzen genauso wie für Karzinome und Corona.

 

Sport zu treiben ist zwar gut, aber alles andere als eine Garantie für Gesundheit, erst recht beim Rücken. Denn ob man Rückenschmerzen bekommt oder nicht, hat nicht nur mit Glück, sondern zu einem guten Teil auch mit der Sitzhäufigkeit zu tun.

Ich kenne meinen Karatefreund schon lange. Er arbeitet beim Staat. Deswegen sitzt er viel. Und wer viel sitzt, kann noch so

viel Sport machen, seine Hüftbeuger verkürzen und seine kleinen Rückenmuskeln werden schlapp.

 

Sportler haben deshalb keineswegs weniger Rückenschmerzen als die Unsportlichen, im Gegenteil. Eine beachtenswerte Arbeit* in der Zeitschrift für Sportmedizin verglich die Häufigkeit von Rückenschmerzen in der Allgemeinbevölkerung

mit der von Leistungssportlern.

 

Das Ergebnis für die 12-Monate- Prävalenz sieht zum Beispiel so aus:

  • Elite-Athleten weltweit : 24-66%
  • Kaderathlethen Dt. Olympiastützpunkte: 65 (31-86)%
  • Sportliche Kontrollgruppe (Sportstudenten): 58%
  • Normalbevölkerung: 38 (10-65)%

 

Bei der Lebensprävalenz und der 7-Tage-Inzidenz zeigt sich das gleiche Resultat: Die Leistungssportler haben mehr Rückenschmerzen. Mich wundert das nicht. Nicht Sport, also ehrgeiziger Wettkampf mit Bewegung, ist das

Gegenmittel zum vielen Sitzen, sondern achtsame Gymnastik.

 

Wenn überhaupt weisen intelligente Übungen zur Dehnung der verkürzten Muskeln und der abgeschwächten kleinen Rückenmuskeln den Rückenschmerz in seine Schranken, wenige Minuten am Tag reichen oft schon. Das gilt für Couch-Potatoes

ebenso wie für ehrgeizige Sportler – und natürlich auch für Ärzte, die sich oft nicht an das halten, was sie ihren Patienten empfehlen. 

 

Deshalb erscheint diese Kolumne auch im Januar, der Zeit der guten Vorsätze.

 

* Trompeter K, Fett D, Brüggemann G-P, Platen P. Prevalence of back pain in elite athletes. Dtsch Z Sportmed. 2018; 69: 240-246. doi:10.5960/dzsm.2018.336

Soyka, Matthias.  (2021, Nr. 01). Warum ausgerechnet ich?, KVH Journal