· 

Was macht eigentlich die Rückenschule?

Man kann nicht immer nur über Corona schreiben oder lesen. Es gibt auch andere Epidemien – zum Beispiel die Rückenschmerz-Epidemie. Das RKI beziffert die 12-Monats-Prävalenz mit 61,8 Prozent, die bei 25,7 Prozent zu einem Arztbesuch führten. Herdenimmunität ist hier nicht zu erwarten. Womit wir bei der Frage wären: Was macht eigentlich die Rückenschule?

 

Trotzdem glaubten viele in den Neunziger Jahren, dass diese Epidemie kurz vor ihrem Aus stünde. Denn überall sprossen Rückenschulen aus dem Boden. Nicht nur Praxen und selbständige Kursleiter, auch Volkshochschulen und Sportvereine fanden ein neues Beschäftigungsgebiet, das sie fleißig beackerten und für das sie immer neue Variationen erfanden: Rückenschule mit Yoga, Rückenschule für Kinder und was noch alles mehr. Vor allem in der Öffentlichkeit wurden übergroße Erwartungen geweckt: „Lieber Rückenschule als OP“.

 

Es stellen sich einige Fragen

 

Jetzt ist ein bisschen Zeit vergangen. Grund genug also für die Frage: Was hat diese Form der Prävention eigentlich gebracht:

- Haben wir jetzt mehr oder weniger Rückenpatienten als früher?

- Haben wir mehr oder weniger Rückenoperationen?

Jeder Arzt kennt die Antwort. Er muss dazu keine Statistiken lesen, der Blick in die Tagesliste seiner Diagnose, genügt. Wir haben sehr viel mehr Patienten, die wegen Rückenschmerzen den Arzt aufsuchen! Und wir haben auch sehr viel mehr Rückenoperationen.

 

Das ist einerseits erstaunlich, andererseits auch nicht, wenn man sich die Inhalte der damaligen Rückenschule ansieht. Damals bemühten sich die Protagonisten „Rückenbewusstsein“ zu schaffen. Das klingt nicht nur so ähnlich wie Klassenbewusstsein, das dazu gehörige Sendungsbewusstsein war mindestens genauso enthusiastisch. Dabei waren die Ansichten über das, was dem Rücken nutzt oder nicht, durchaus divergent.

 

„Lordose oder Kyphose“ und „Extension vs. Flexion“

So wurde über die Frage, „Lordose oder Kyphose“ beziehungsweise „Extension vs. Flexion“ teilweise so vehement gestritten, wie man es sonst nur in maoistischen oder christlich-fundamentalistischen Zirkeln kannte. 

 

Die Anhänger der Lehre des Schweizer Neurologen Alois Brügger sahen Rückengesundheit dadurch entstehen, dass man möglichst immer ein tiefes Hohlkreuz einnahm, selbst dann, wenn es weh tat, weil man zum Beispiel unter Facettenarthrosen oder Wirbelgleiten litt. In einigen Kliniken, die der reinen Lehre anhingen, wurden die Patienten dazu verdonnert, ihre Zimmer nur mit einem Keilkissen zu verlassen, um immer schön mit Hohlkreuz und „Enten-Ar…“ zu Tisch zu sitzen.

Feldzug gegen die Hyperlordose

Dagegen führte die andere Fraktion, die sich auf den Rückenpapst Prof. Jürgen Krämer berufen konnte, einen konsequenten Feldzug gegen die Hyperlordose. Während die Überstreckung der Wirbelsäule bei den einen das Heil bringen sollte, war sie bei den anderen des Teufels. Über die Frage, ob die Wirbelsäule mehr in Flexion oder in Extension gehalten werden sollte, konnte man sich stundenlang streiten, so als ob nicht beide Bewegungsrichtungen zur normalen Beweglichkeit des Menschen gehören würden. 

 

Über das „richtige Sitzen“, oder auch das „falsche Stehen“ wurde heftig und mit großer Freude debattiert. Das Ganze kann man heute eigentlich nur noch mit großem Amüsement rezipieren.

 

Unabhängig von diesen Streitpunkten war aber nahezu allen Varianten der „klassischen Rückenschule“ gemeinsam, dass sie Schonung und die Vermeidung von für schädlich erachteten Haltungen und Bewegungen in ihren Fokus stellten.

Chronifizierung durch Lernprozesse der Angstvermeidung

Vermeidung ist ja nicht per se falsch. Bei Giftstoffen, infektiösen Materialien, Lautstärke oder Strahlung ist die Vermeidung der Exposition ja eine der klassischen und erfolgreichen Präventionsstrategien. Auch bei überm..iger körperlicher Belastung ist die Regelung durch Grenzwerte oft sinnvoll.

 

Aber die generelle Kennzeichnung ganz normaler Haltungen und Bewegungen als rückenschädlich war sachlich nicht begründet und hatte gravierende Konsequenzen. Denn eine wesentliche Rolle bei der Chronifizierung von Rückenschmerzen spielen Lernprozesse der Angstvermeidung. „Fear avoidance beliefs“, also die Überzeugungen, dass der Rückenschmerz gefährlich ist und bestimmte Bewegungen ein Risiko darstellen, sind dabei der Treibstoff für die operante Konditionierung in den chronischen Rückenschmerz hinein.

 

Jeder Behandler von chronischen Rückenschmerzpatienten kennt die traurigen Menschen, die ihr Leben panisch so organisieren, dass möglichst jeder für gefährlich erachteter „Auslöser“ möglicher Schmerzen vermieden werden. Die Koordinaten ihres Denkens: Bloß nicht schwer heben, bloß nicht ohne warmes Unterhemd aus dem Haus gehen.

Viele Empfehlungen waren wissenschaftlich falsch

 

Die klassische Rückenschule wirkt bei diesen Menschen wie eine Sammlung iatrogener „fear avoidance beliefs“

der Extraklasse. Viele Empfehlungen waren zudem wissenschaftlich einfach falsch. 

 

Ein Beispiel hierfür ist der Ratschlag, Lasten immer nur aus den Knien zu heben. Er lässt sich biomechanisch nicht begründen und wirkt als Angstverstärker. In modernen multimodalen Therapien wird daher wieder bewusst trainiert, angstfrei aus dem Rücken zu heben, also die alten Rückenschulregeln bewusst zu missachten. Als der „Sportsmedicine Approach“ von Mayer und Gatchel in Deutschland von Pionieren wie Pfingsten und Hildebrandt mit ihrem Göttinger Rückenintensiv Programm übernommen wurde, war das „Work Hardening“ ein wichtiger Bestandteil der dort verabreichten Medizin. Keine Frage, dass Absolventen einer Rückenschule sich bei modernen multimodalen Behandlungsprogrammen zunächst sehr wundern. Von den Kollegen des Hamburger Rückenzentrums am Michel zum Beispiel hörte ich, dass Rückenschmerzpatienten immer wieder erstaunt seien, wenn man ihnen erklärt, dass Staubsaugen ungefährlich ist.

 

Die alte Rückenschule hielt das Sitzen für bedenklicher als das Stehen, weil im Sitzen der Bandscheibendruck höher sei. Diese Ansicht beruhte auf einer Untersuchung an einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin des schwedischen Forschers Alf Nachemson in den sechziger Jahren. Ähnliche Untersuchungen, die die Ergebnisse von Nachemson kontrollierten, wurden erst in den Neunziger Jahren wieder durchgeführt. So wurde in einem heroischen Selbstversuch der Ulmer Orthopäden Hans Joachim Wilke und Peter Neef, der sich eine moderne, flexible Sonde in die Bandscheibe einführen ließ, festgestellt, dass der Bandscheibendruck beim normalen Sitzen und Stehen annähernd gleich hoch ist, während er beim von Krankengymnasten und Orthopäden oft empfohlenen Sitzen mit geradem Rücken sogar anstieg (https://idw-online.de/de/news5911)

 

Ist die Fokussierung auf den Bandscheibendruck wirklich angemessen?

Inzwischen muss in Frage gestellt werden, ob die Fokussierung auf den Bandscheibendruck wirklich angemessen ist. Ob hoher Bandscheibendruck per se schädlich ist, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Trotzdem hat häufiges Sitzen, wie in vielen epidemiologischen Studien nachgewiesen wurde, eine negative Wirkung auf den Rücken (und nicht nur auf den, sondern auf vieles andere wie den Stoffwechsel und den Kreislauf auch). Aber dafür bieten sich ganz andere Faktoren als Erklärung an: Muskelschwäche, Stoffwechsel und vor allem die Verkürzung der Hüftbeugemuskulatur.

 

„Richtiges“ und „falsches“ Sitzen, Liegen oder Stehen scheint es nicht zu geben. Entsprechende Empfehlungen der alten Rückenschule haben daher mehr den Charakter von archaischen Tabu-Regeln als von wissenschaftlich begründeter Prävention, auch wenn „weniger häufig Sitzen“ vermutlich keine schlechte Idee ist.

 

Richtigen Flurschaden richtete die angstbesetzte Warnung vor Yogaübungen wie dem „Pflug“ an oder die Empfehlung, das Brustschwimmen zu meiden. Denn hierdurch wurden Patienten und Gesunde von Bewegung abgehalten und erneut Ängste geschürt.

 

Weder das völlige Einrollen der Wirbelsäule noch das Brustschwimmen problematisch

Natürlich gibt es einzelne Patientinnen, bei denen man solche Einschränkungen empfehlen kann oder muss. Aber für die große Mehrheit der Menschheit sind weder das völlige Einrollen der Wirbelsäule wie beim Pflug problematisch noch das Brustschwimmen. Da aber viele vor allem ältere Patienten sich nur beim Brustschwimmen sicher fühlen, führte der Ratschlag, möglichst nur auf dem Rücken zu schwimmen, bei vielen dazu, das Schwimmen ganz aufzugeben.

 

Es kann für uns Ärzte nicht schlecht sein, gelegentlich auf unsere Ratschläge von früher zu sehen und zu reflektieren, was sie denn nun bewirkt haben – sei es das Keilkissen oder der Rat, möglichst wenig Eier zu essen.

 

Rückenschule eine Teil-Ursache der anhaltenden Rückenschmerzepidemie

Die Rückenschule in der Form, wie sie in den Neunziger Jahren aufkam, zeigt sich in der Nachschau jedenfalls nicht als ein Erfolgsmodell. Im Gegenteil: Die klassische Rückenschule ist mit ihren wissenschaftlich meist nicht begründeten Verboten, Warnungen und Tabus kein Teil der Lösung, sondern vermutlich eher eine Teil-Ursache der anhaltenden Rückenschmerzepidemie.

 

Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass man Rückenbeschwerden als unabwendbares Schicksal nehmen muss. Dehnung verkürzter Muskeln, Kräftigung der abgeschwächten (kleinen) Rumpfmuskeln versprechen einen gewissen Schutz.

 

Genauso wichtig ist aber auch die Akzeptanz der Tatsache, dass trotz aller Übungen und Achtsamkeit dieser Schutz nicht annähernd 100 Prozent erreichen wird. Weil Rückenschmerzen zum Leben dazugehören, sollte man einen angstfreien und entspannten Umgang mit dieser nervigen, aber nicht lebensgefährlichen Gesundheitsstörung pflegen. Die Erfahrung, dass man akute Beschwerden mit aktiven Übungen überstehen kann, hilft dabei ebenso wie das Wissen, dass in den meisten Fällen eben nichts Gravierendes hinter den Schmerzen steckt.

 

Besonders beruhigend ist es dabei, wenn man sich bei der Prüfung, ob das auch im Falle der eigenen

Beschwerden gilt, auf seinen Arzt verlassen kann.

 

02.01.2021 08:51, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/209600