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Lasst uns über Toiletten sprechen

Früher war die Toilette als Thema für abendliche Gespräch Tabu. Spätestens seit dem Bestseller „Darm mit Charme“ hat sich das verändert. Ich hatte daher schon Gelegenheit, Gesprächen sowohl über die richtige Defäktionshaltung als auch über die Vor- und Nachteile japanischer Automatikklos zu zuhören.

 

Über Behindertentoiletten zu sprechen ist aber immer noch nicht „très branché“. Deshalb war ich zunächst peinlich berührt als ein Patient mir kürzlich das Lob aussprach: „Sie haben aber ein wirklich schönes Behinderten-WC in Ihrer Praxis.“

 

Ich war mir anfangs nicht sicher, ob er dies ernst oder ironisch meinte. Denn das behindertengerechte WC unserer Praxis ist wie die ganze Praxis etwas in die Jahre gekommen und dem aktuellen Geschmack der späten Neunziger entsprechend gestaltet. Als ich die Praxis einrichtete, verspürte ich aber in der Tat auch den Ehrgeiz, das schönste Behinderten-WC von

Hamburg einbauen zu lassen. Das äußerte sich darin, dass ich statt der damals üblichen Bügel aus gebürstetem Edelstahl, die den Charme eines Spülraums einer Krankenstation ausstrahlten, schicke rote Bügel wählte.

 

Ob dieser Stil heute noch allgemein als schön empfunden wird, wage ich zu hinterfragen. Meine jüngeren Praxispartner bezweifeln das für andere Stilelemente der Praxis ja auch. Sie hätten gerne mehr „taupe“ und anderes modernes Grau im Sylter Stil. Sie ahnen nicht, dass Praxiseinrichtungen in Blau und Buche schon bald wieder hochmodern sein werden – aber das ist ein anderes Thema…

 

Behinderten-WCs in Deutschland - ein Trauerspiel

 

Jedenfalls nahm ich das Lob dankend an und es entspann sich ein längeres Gespräch über Behinderten-WCs. Der Patient war erst seit kurzem auf einen Rollstuhl angewiesen; jetzt fiel ihm auf, dass der Zustand der Behinderten-WCs in unserem Land ein einziges Trauerspiel ist. Meist sind sie schlecht geplant, so dass das WC dank der breiten Tür für Rollstuhlfahrer zwar anzufahren ist, aber schon der Transfer vom Rollstuhl auf die Toilette oft akrobatisches Geschick verlangt oder gar nicht möglich ist.

 

Ich konnte meinem Patienten ein Buch empfehlen, das ich kurz zuvor gelesen hatte und welches mich noch mehr für das Thema sensibilisierte. Der Kollege Bernd Hontschik, mit dem ich mich beim Kolumnenschreiben im Hamburger KV Journal abwechsle, hat zusammen mit seiner Frau Claudia ein Buch mit dem Titel „Kein Örtchen. Nirgends.“ geschrieben. Aus

eigener Betroffenheit wird detailliert der Zustand von Behinderten-WCs beschrieben und im Stile von Restauranttestern bewertet.

 

Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, fiel mir auf, dass die Sache mit dem roten Bügel noch der geringste Mangel unseres Behinderten-WCs ist. Für den Rollstuhlfahrer sind andere Details wichtiger, z.B. wie die Spültaste erreicht werden kann und ob das Waschbecken mit dem Rollstuhl unterfahrbar ist.

 

Alles Dinge, die ich mir vor fast einem Vierteljahrhundert nicht in allen Details überlegt hatte, obwohl ich zu der Zeit mit Kursen zum „Rückengerechten Patiententransfer“ beschäftigt war. Hätte ich dieses Buch damals schon gehabt, hätte man einige Sachen mit wenig Aufwand besser gestalten können.

 

„Kein Örtchen. Nirgends“

 

Dabei sind die Mängel der WCs noch das kleinere Problem. Das größere besteht nach Ansicht des Ehepaars Hontschik darin, dass oft überhaupt kein behindertengerechtes WC vorhanden ist. Und wenn es eines gibt, dann ist es oft schwer erreichbar oder verschlossen, der Schlüssel gerade nicht auffindbar.

 

Die menschlichen Bedürfnisse, für die die WCs gedacht sind, lassen sich aber nicht einfach abstellen oder zur Wiedervorlage verschieben. Wenn man es braucht, braucht man es meist relativ schnell. Deshalb muss ein Rollstuhlfahrer seine Aufenthalte in Restaurants und Kultureinrichtungen ebenso wie Arztbesuche vorher ganz anders als die „Fußgänger“ planen. Er muss immer schon antizipieren, wohin er im Fall der Fälle fahren kann. Viele Besuche sind ihm daher schon von vornherein nicht möglich.

 

Das heißt der Zustand und das Vorhandensein dieser banalen Sanitäreinrichtungen entscheiden ganz wesentlich darüber, ob ein Rollstuhlfahrer am sozialen Leben teilnehmen kann oder nicht. 

 

Behinderten-WCs in Arztpraxen

 

Besonders ärgerlich ist es daher in meinen Augen, dass auch eine relevante Anzahl von Arztpraxen immer noch nicht barrierefrei ist. Natürlich gibt es hier das Problem, dass ein Umbau einer Arztpraxis immer von dem Praxisinhaber alleine gestemmt werden muss. Aber nach Jahren, in denen Übergangsregelungen bestanden, müsste es eine gesellschaftliche Kraftanstrengung geben, um alle Arztpraxen für Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen.

 

Man könnte dieses Vorhaben damit verbinden, eine Ungerechtigkeit in der Konkurrenz zwischen Praxen und Kliniken zu beseitigen. Während den Kliniken Umbaumaßnahmen zu einem großen Teil vom Staat, bzw. von den Krankenkassen erstattet werden, müssen die Praxisinhaber selbst für diese Kosten aufkommen. Bei der Umgestaltung von Praxen mit dem Ziel der Barrierefreiheit könnte man beginnen, dies zu ändern und die Umbaukosten der Praxen mit öffentlichen Geldern finanzieren. In jedem Fall muss etwas passieren. Deutschland muss in puncto Barrierefreiheit mit Ländern wie den USA gleichziehen. Das ist keine Sozialromantik. 

 

Wenn man selbst betroffen ist

 

Das Ehepaar Hontschik hat nach eigenen Aussagen sich auch nicht für Behinderten-WCs interessiert, bis Claudia Hontschik auf einen Rollstuhl angewiesen war. Selbst betroffen zu sein und ein Behinderten-WC zu benötigen, ist dabei keine fernliegende, unwahrscheinliche Gefahr.

 

Jeder niedergelassene Arzt, der Rollstuhlfahrer behandelt, kennt die dahinter stehenden Geschichten. Es ist der Motorradfahrer, der das Pech hatte, das ein Autofahrer ihn übersah, der Zimmermann, der vom Dach fiel, oder die Reiterin, die den Sturz von ihrem Pferd knapp überlebte. Es ist der junge Programmierer, der plötzlich Lähmungen und Gefühlsst.rungen in der Beinen bemerkte und bei dem sich dann im MRT der Brustwirbelsäule ein großer neurogener Tumor fand. Es ist die junge Frau, deren MS sich in wenigen Monaten rapide verschlimmerte. Es ist der rüstige Rentner, der mit seinem Fahrrad über einen Campingplatz fuhr und nicht sehen konnte, dass ein tückischer Zeitgenosse ein straffes Seil über seinen Weg gespannt hatte.

 

Trotz guter Medizin und Unfallprävention gibt es immer noch viele Wege in den Rollstuhl. Sich um menschenwürdige Bedingungen für Behinderte zu sorgen, ist daher nicht nur ein Akt von Solidarität mit Menschen, die weniger Glück hatten als man selbst. Es ist vor allem auch ein Akt von Selbstvorsorge.Es gibt junge hedonistische Menschen, die die Attitüde pflegen, Behindertenrechte gingen sie nichts an. Auch mit denen diskutiere ich gerne und mache dabei meistens einen Punkt: Die Sorge um eine behindertengerechte Umwelt ist kein reiner Altruismus, sondern auch ein ganz rationaler Akt, der auch für Hard-Core-Egoisten Sinn macht. Denn jeden von uns kann es treffen, jeder kann sich plötzlich als behindert wiederfinden.

16.05.2021 10:05, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/212220