Passend zur Kolumne "Zu wenig Impfstoff führt zu Aggression in den Praxen - was sind die Ursachen?" hat änd Kolumnist Dr. Matthias Soyka ein Gespräch mit einem Sicherheitsexperten geführt. Sie lesen das Interview im Folgenden:
Interview mit Holger Schumacher von WO-DE-Sicherheitsschulungen
Spätestens seit der Gesundheitsminister die Aufhebung der Priorisierung ankündigte, steigt das Aggressionlevel in den Praxen. Es sind zum Glück nur wenige Patienten, bei denen diese Aggression in reale Gewalt umschlägt. Aber durch das aggressive Klima entsteht oftmals ein latentes Gefühl der Bedrohung bei den Ärzten und besonders bei den Medizinischen Fachangestellten.
In dieser Situation könnte es hilfreich sein, sich Rat zu holen bei einem Spezialisten, der früher schon einmal als Erstsprecher bei Geiselnahmen gearbeitet hat. Ich sprach deshalb mit Holger Schumacher, einem ehemaligen SEK Beamten des LKA Hamburg, der jetzt mit seiner Firma WO-DE-Sicherheitsschulungen (https://www.wode.info) namhafte Firmen ebenso wie Schulen, Krankenhäuser und Praxen berät und schult.
Vor 15 Jahren hat er einmal eine solche Schulung in unserer Praxis durchgeführt, von der die damals
teilnehmenden MfAs bis heute erzählen und profitieren.
Herr Schumacher, Medizinische Fachangestellte sind Kummer gewöhnt. Aber jetzt sind sie besonderen
Belastungen ausgesetzt, weil kurz vor der Urlaubssaison fast jeder auf einer Impfung besteht und
andererseits klar ist, dass nicht jeder bis zum Urlaub geimpft werden kann. Obwohl der Impfstoffmangel
politisch zu verantworten ist, werden die MfA an der Rezeption verbal attackiert und gelegentlich auch
körperlich angegriffen. Was raten Sie den Ärzten und ihren Mitarbeitern, die von Ihren Patienten so
bedrängt werden?
Ich empfehle, dass das gesamte Praxis-Team im Konfliktfall eine klare Stellung bezieht. Jeder sollte sich darüber Gedanken machen: Wie möchte ich, dass man mit mir umgeht? Und man sollte so eine Haltung auch freundlich einfordern. Die Freundlichkeit beim Einfordern kann dabei auch gerne oberflächlich sein. Der Patient ist Gast in der Praxis und so darf dieser Mensch auch erwarten, behandelt zu werden: respektvoll, achtsam und freundlich. Aber auch der Gast, der Patient hat sich dementsprechend zu verhalten. Frei nach Konfuzius: „Behandle jeden so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“
Wenn jeder so denken und handeln würde, wäre ja alles so einfach. Aber leider gibt es immer wieder
Menschen, die sich nicht an diesen Grundsatz halten. Ich halte es für wichtig, diesen Menschen Grenzen zu
setzen und dazu ist prinzipiell jeder Mensch in der Lage. Manchmal bedarf es etwas professioneller
Unterstützung.
Wie soll das konkret aussehen?
Die wichtigste Maßnahme: Das Praxis-Team sollte schon vorher einen Deeskalation-Plan entwickeln, in den alle
involviert sind. Man sollte nicht erst in einer Konfliktsituation darüber nachdenken, was man im Fall der Fälle tut.
Es beginnt mit dem eigenem Standing. Dieses sollte jedes Praxismitglied für sich entwickeln. Ein selbstbewusstes Auftreten ist eine wesentlich Bedingung für eine deeskalierende Gesprächsführung. Man sollte sich auch vorher schon Gedanken machen über die rechtliche Bewertung möglicher Aggressionen. Das hilft, angemessen zu reagieren. Man sollte sich z.B. vorher überlegen, was ist nur ein scharfer Ton, den man hinnehmen muss, und was ist eine Beleidigung, die man evtl. sogar rechtlich ahnden könnte. Wo fängt Nötigung oder Bedrohung an, wann ist es Hausfriedensbruch? Wenn man das rechtlich einordnen kann, ist man klarer in ambivalenten Situationen und kann deshalb besser reagieren und selbstsicherer auftreten.
Zudem müssen Maßnahmen der Eigensicherung vorher durchdacht werden. Man braucht dazu nur wenige
praxisorientierte Kriseninterventionstechniken, die wir in unseren Kursen vermitteln.
Was soll man tun, wenn das nicht hilft?
Letztendlich wird es auch immer wieder einmal Situationen geben, bei der man einen Einsatz der Polizei wegen Bedrohung und Hausfriedensbruch benötigt. Viele Praxen haben noch nicht einmal die Nummer der nächsten Polizeidienststelle. Eine Praxis sollte aber auch auf solche Situationen vorbereitet sein
Sie sind mehrfacher Deutscher Meister im Karate und JuJutsu.
Würde es helfen, wenn Ärzte und MfA Kampfsportspezialisten wären?
Nein, das würde nicht unbedingt helfen. Bei den meisten Kampfsportarten fehlt der echte Vollkontakt-Aspekt für die Anwendung im Ernstfall. Um sich im Ernstfall körperlich zu wehren, braucht man nicht viele Techniken. Ein Tritt gegen das Schienbein oder an andere empfindliche Stellen reicht aus. Wir lehren, wie das geht. Aber viel wichtiger ist die mentale Seite. Man muss sich gedanklich darauf vorbereiten, im Ernstfall auch einmal jemandem ernsthaft weh zu tun. Das ist das, was wir in unseren Kursen trainieren. Aber dieser Teil nimmt den geringsten Raum ein. Das wichtigste ist die Deeskalation und Abgrenzung im Vorfeld.
Was sollte man auf keinen Fall tun?
Betroffene Ärztinnen und Ärzte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten unflätige Äußerungen aggressiver
Patienten auf keinen Fall persönlich nehmen. Wir haben damals in der Polizeiausbildung gelernt mit Beleidigungen zum Beispiel auf Demonstrationen umzugehen. Ein Ausbilder sagte uns: „Wenn Ihr beleidigt werdet, gilt es immer der Uniform, nicht Euch als Person.“ Das hat mir damals sehr geholfen.
Wenn jetzt Patienten wegen fehlendem Impfstoffs aggressiv werden, richtet sich das nicht gegen die Ärzte persönlich, sondern gegen die Funktion. Diese Distanz ist eine unabdingbare Voraussetzung, um in dieser Situation gelassener und ergebnisorientierter entscheiden und handeln zu können. Und es ist sehr wichtig in der Verarbeitung des Geschehenen. Vor allem hilft Distanz dabei, dass man die Konflikte nicht mit nachhause nimmt.
Herr Schumacher, vielen Dank für dieses Interview.
Das Interview führte ÄND Kolumnist Dr. Matthias Soyka
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