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„Alle Räder stehen still…“

 

Die neueste Honorar-Nullrunde wird vermutlich eine Minusrunde. Es ist nicht der letzte Wortbruch und nicht das letzte Ärgernis für die Kassenärzte. Es gab und gibt so viele Zumutungen – wie die Rücknahme der schlappen TSVG Honorierung, die lachhafte Entlohnung der Impfung, die offensichtliche Ungleichbehandlung von Ärzten und Kliniken, und von

Ärzten und Apothekern. Es reicht! So ist das Gefühl vieler Kollegen.

 

Doch was kann man wirklich dagegen unternehmen? Streik? Zulassungsabgabe?

 

Diese Lösungen werden immer wieder diskutiert, aber bis jetzt nie in die Tat umgesetzt. Fragt man die, die vor Tatendrang sprühen und sofort loslegen würden, ist es vor allem eine Charakterfrage der Kollegen, die sich nicht beteiligen.

 

Doch ist es wirklich so einfach? Oder ist nicht die Beschimpfung weniger kämpferischer Kollegen ein weiteres

Treibmittel der „Spaltung der Ärzteschaft“, die alle beklagen?

 

Die Streik Pro und Contra Liste

Deshalb ist es ein sinnvolles Vorhaben, sich einmal zu überlegen, was denn jetzt das Hindernis ist, das Ärzte vom Streiken abhält. Vielleicht fordert man ja von seinen Kollegen etwas, was gar nicht geht. Vielleicht führt die Kenntnis dieser Hindernisse zu ersten Schritten ihrer Überwindung. Und vielleicht muss man sich auch einfach Gedanken über Alternativen machen.

 

Das geht am besten mit einer Pro Und Contra Liste. Was spricht dafür und was dagegen, dass Streik ein Mittel ist, das Ärzte zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen können?

 

Die Liste kann nicht vollständig sein und ist deshalb keine „Machbarkeitsstudie“.

 

Ärzte sind wichtig.

Ärztliche Arbeit hat einen hohen Nutzwert. Der Arztberuf ist systemrelevant. Da haben es die Berufe schwerer, die nur aus den Bedürfnissen des abgehobenen Überbaus heraus existieren. Darunter auch solche, bei denen niemand merken würde, wenn sie aufhörten zu arbeiten. Streiken bringt für diese Gruppen deshalb wenig. 

 

Erstaunlicherweise sind diese Berufe aber trotzdem oft gut bezahlt. Das weist daraufhin, dass man nicht unbedingt streiken muss, wenn man nur genügend politischen Rückhalt hat.

 

Ärzte hingegen haben aufgrund ihrer Systemrelevanz eine Streikmacht ähnlich wie die Müllabfuhr, Fluglotsen

und Lokomotivführer. Dieser Punkt ist also eindeutig auf der Pro Seite anzusiedeln, obwohl man ehrlicherweise

auch Abstriche machen muss.

 

Denn natürlich wird der Arzt bei einem gebrochenen Sprunggelenk, einem Hexenschuss oder akuten Bauchschmerzen besonders dringend benötigt, während sich Vorsorgemaßnahmen auch gerne ein paar Wochen hinausschieben lassen. Das wirkt sich auch auf die Streikmacht aus.

 

Je mehr die Arbeit eines Arztes in der Behandlung akuter Krankheiten besteht, um so mehr wird seine Abwesenheit bedauert. Reine Prävention lässt sich hingegen weniger gut bestreiken. Der Ehemann, der von seiner besorgten Ehefrau wegen Übergewicht und Bluthochdruck zum Hausarzt geschickt wurde, wird sich unter Umständen sogar freuen, wenn die Ratschläge zur Lebensstiländerung erst ein paar Wochen später über ihn kommen.

 

Patienten sind keine Kunden

 

Umgekehrt sind auch absolute Notfälle etwas, was die Streikfähigkeit bremsen kann. Denn selbstverständlich muss wie bei der Müllabfuhr oder im Bahnbetrieb ein Notbetrieb aufrecht erhalten werden. Absolute Notfälle werden daher auch im Streik behandelt. Bei der Müllabfuhr ist das vermutlich nur ein rechtliches Problem. Bei uns Ärzten gibt es dafür aber auch menschliche Gründe.

 

Denn unsere Patienten sind ja nicht einfach Kunden, die zum Beispiel bei der Bahn oder der Lufthansa eine Reise nach Garmisch oder auf die Malediven gebucht haben. In einem Streik im Gesundheitswesen kommen Menschen, die medizinische Hilfe suchen, zwischen die Streikfronten. Das macht Streik nicht unmöglich, aber schwieriger. Das Pflegepersonal und die Ärzte im Krankenhaus kennen diese Probleme, die vor Streikbeginn diskutiert werden müssen – und für die es Lösungen geben muss.

 

Diese Probleme lassen sich nicht einfach mit Streikrhetorik negieren. Zumal sie in den Praxen noch deutlicher zutage treten. Denn wir alle haben viele Patienten, die uns lange aufsuchen und uns vertrauen, und zu vielen haben wir eine persönliche und freundschaftliche Beziehung aufgebaut. Längere und wirklich empfindliche Streikaktionen könnten hier - anders als kurze Warnstreiks- schnell an ihre Grenzen stoßen.

 

Ärzte haben kein Streikrecht

 

Dass niedergelassene Ärzte kein Streikrecht haben, ist kein marginales Problem. Vor allem, wenn der Streik nicht erfolgreich ist oder nur mit einem mittelguten Kompromiss endet, könnte auf die Teilnehmer des Streiks und besonders auf die Organisatoren existenzbedrohende Forderung zu kommen. Wer wirklich streiken will, muss sich vorher mit diesen Fragen auseinander gesetzt haben. Das ist daher ein Punkt auf der Kontra Seite.

 

Ärzte haben keine Streikkasse

Überhaupt ist die Vorbereitung eines Streiks nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Alle erfolgreichen gewerkschaftlichen Streikaktionen wurden von gut organisierten Belegschaften durchgeführt, die sich jahrelang auf Streikaktionen vorbereitet haben. Besonders wichtig sind dabei natürlich gut gefüllte  Streikkassen. Denn auch im Streik müssen Miete und Lebensunterhalt bestritten werden.

 

Die Forderung an seine Kollegen, einen langanhaltenden Streik vom Zaun zu brechen, ohne dass diese Vorbereitungen getroffen wurden, erscheint daher weniger ernsthaft. Für kleinere Streikaktionen und Warnstreiks gilt dies aber vermutlich nicht. 

 

Die fehlende Streikkasse weist auf ein anderes Problem, dass auch keine Petitesse ist: Es gibt keine Gewerkschaft der niedergelassenen Ärzte. Viele Kollegen schimpfen auf die KV, wenn diese schlecht verhandelt hat. Sie verkennen aber oft dabei, dass die KV keine Gewerkschaft ist, sondern eine Anstalt des öffentlichen Rechts und zwar ein Aufsichtsorgan in Selbstverwaltung. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den KVen, einige betonen mehr ihre Funktion als Aufsichtsorgan, andere mehr die der Selbstverwaltung. Aber egal wie, eines können KVen nie sein, eine Gewerkschaft. Es wäre daher auch nicht angemessen, ihnen vorzuwerfen, sie seien keine.

 

Und so tut es mir wirklich leid, aber auch das Fehlen einer Gewerkschaft und einer Streikkasse geht wieder auf die Kontra Seite. Wer möchte, dass die Ärzteschaft sich mit Streik gegen Nullrunden und anderen Zumutungen wehrt, wird daher nicht darum herumkommen, mit ausreichend Vorlauf gewerkschaftsähnliche Strukturen inclusive einer Streikkasse aufzubauen.

 

Ärzte sind freie Unternehmer

Ein Ärztestreik wäre zudem kein normaler Streik von Lohnabhängigen. Kassenärzte sind Zwitterwesen zwischen freien Unternehmern und abhängig Beschäftigten der Krankenkassen bzw. der KV. Die Funktion als Unternehmer gibt mehr Freiheit nach innen, aber auch erhebliche Verpflichtungen. Aber die freie Marktmacht eines Unternehmers haben Kassenärzte nicht. Dafür sorgt der Sicherstellungsauftrag.

 

Es gibt auch andere Unternehmen, die solche Fremdbestimmung kennen, weil sie von einem oder nur wenigen Abnehmern abhängen. Die Zulieferer in der Autoindustrie sind so ein Beispiel, ebenso wie Vertragshotels von Reiseunternehmen. Und immer mehr kleine Händler und Produzenten geraten in eine ähnliche Abhängigkeit von AMAZON.

 

Diese Unternehmer haben keine völlig freie Marktsouveränität, ihnen werden Bedingungen und Preise oft diktiert. Sie können trotzdem „streiken“, also die Leistung ganz oder teilweise verweigern. Auch bei diesen Unternehmen gibt es genügend Beispiele, wie diese Erfolge erringen können – aber eben auch oft herbe Niederlagen einstecken müssen.

 

Bei diesen Auseinandersetzungen gehen sie immer auch ein hohes Risiko ein. Denn sie müssen nicht nur das Geld für sich, also den Unternehmergewinn, erwirtschaften, sondern auch die Kosten für ihre Arbeitnehmer, die darauf nicht nur einen moralischen, sondern auch einen robusten rechtlichen Anspruch haben. Letzteres gilt erst recht für die Miete und die Kredite der Banken.

 

Bei den Ärzten sieht es genauso aus. Auch sie könnten durchaus „streiken“, also die Leistung auch als Unternehmer verweigern. Dieser Punkt geht daher weder an die Pro- noch an die Kontraseite. Aber nicht zufällig scheint die Streikbereitschaft bei den jüngeren Kollegen noch geringer zu sein als bei den älteren. Die Älteren haben ihre Praxis meist schon abbezahlt - allerdings auch in ihrem Berufsleben schon mehr Briefumschläge mit frustrierenden Honorarbescheiden und Regressandrohungen geöffnet.

 

„Nichts zu verlieren als ihre Ketten“?

Ärzte sind keine ausgehungerten Proletarier, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, sondern gehören zum Glück in ihrer Mehrheit immer noch zu den Besserverdienenden. Das Durchschnittseinkommen liegt über 100 000 Euro, wenn man die Privateinnahmen mitberücksichtigt. Natürlich gibt es auch Kollegen, die weniger verdienen. Aber die stellen nicht die Mehrheit. Dafür gibt es viele, die sehr viel mehr verdienen, sei es aufgrund guter Praxisorganisation, hoher Zusatzeinnahmen und einfach auch durch Glück. Man kann schon nicht erwarten, dass diese Besserverdienenden zu riskanten Streikmassnahmen zu motivieren sind, aber auch mit 80000 Euro im Jahr hat man etwas zu verlieren.

 

Das berühmte „hohe Niveau“

Dass Ärzte mehr verdienen als zum Beispiel ein Bauarbeiter, wird oft von Kassen- und Politikerseite als Beleg dafür angesehen, dass wir „auf hohem Niveau“ klagen, also eigentlich keinen Grund zur Unzufriedenheit haben. Der Sozialneid gesteht denjenigen „mit den breiten Schultern“, den bösen Besserverdienenden das Recht zur Kritik immer weniger zu.

 

Das scheint umso mehr zu gelten, je mehr das höhere Einkommen durch Arbeit erzielt wird und nicht durch Kapitaleinkommen oder das Glück, Popstar oder Fußballer zu sein. Wer so denkt, zeigt, dass es ihm ein Graus ist, wenn jemand nur ein wenig über das Normalmaß hinausragt – das ist die Essenz der Unfreiheit.

 

Berechtigte Unzufriedenheit kann man auch äußern, ohne dass man vom nackten Elend getroffen ist. Und die berechtigte Unzufriedenheit der Kassenärzte hat ja nicht nur Auswirkungen auf die Ärzte selbst, sondern auf die breite Bevölkerung, der schon bald die freien Haus- und Fachärzte fehlen wird.

 

Berechtigter Unmut

Ärzte haben sehr viel gute Gründe zur Unzufriedenheit. Seit 25 Jahren sind die Preise der GOÄ unverändert, die Einkommen aus der Behandlung von Kassenpatienten bewegen sich ebenfalls auf dem Niveau der Jahrtausendwende.

 

Hiergegen zu streiken, wäre mehr als gerechtfertigt. Das steht auf der Pro-Seite. Aber diese Unzufriedenheit hat nicht annähernd den Charakter der Verzweiflung, die gequälte Belegschaften zu riskanten Streikaktionen treiben. Der berechtigte Ärger der Ärzte dürfte nicht ausreichen, um ohne Gewerkschaft und ohne Streikkasse einen langandauernden Arbeitskampf vom Zaun zu brechen.

 

Strategie der Nadelstiche

Deshalb wäre mein Fazit, dass langdauernde Streiks der niedergelassenen Ärzte keine echte Option sind. Völlig anders hingegen dürfte es mit kurzen Arbeitsniederlegungen verbunden mit Protestmaßnahmen sein. Eigentlich müsste man sich konzertiert Gedanken über eine Strategie der kleinen Nadelstiche und Mini-Aktionen erstellen, mit denen Ärzte ihre Kritik ins Licht der Öffentlichkeit transportieren können. Denn schließlich entscheidet selbst über die Wirksamkeit eines Streiks – noch mehr als der ausgeübte wirtschaftliche Druck – die Unterstützung der Öffentlichkeit. Das gilt selbst für kampferprobte Lokführer. „Ein Streik, den die Öffentlichkeit missbilligt, kann keinen Erfolg haben“, schreibt der Arbeitsrechtler Gregor Thüsing in der WELT.

Umgekehrt würde es echte Streikmaßnahmen überflüssig machen, wenn die Bürger verstehen würden, dass die schofelige Behandlung der Kassenärzte nicht nur deren eigenes Problem ist. Es ist vielmehr und sogar in erster Linie das Problem der Bürger selbst.

 

Denn frustrierte Kassenärzte, die bürokratisch gegängelt und nicht angemessen bezahlt werden, wird es nicht auf Dauer in großer Zahl geben. Sie werden alleine durch die „natürliche Altersfluktuation“ verschwinden und, wenn es denn Nachfolger gibt, ersetzt durch angestellte Ärzte von Klinik- und Konzerneigenen MVZ. 

 

Das verständlich zu machen, und zu zeigen, was das für die Patientenversorgung bedeutet, dürfte mehr Wirkung entfalten als jeder Streik.

 

 

29.08.2021 06:13, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/213926