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Jens Spahns Traum: App statt Arzt

Die Ära Spahn neigt sich dem Ende zu und wird mit nicht geringer Chance durch eine noch schlimmere ersetzt.
Zeit für einen Blick zurück auf seine Lieblingsidee.

 

„Was ist denn mit Ihnen los?“ fragt der Hausarzt seinen Patienten, der sich nur mal kurz eine Überweisung zum HNO Arzt abholen will, weil er Ohrenrauschen hat. „Nichts, nur ein bisschen Stress“. Mit der Antwort gibt sich der erfahrene Kollege nicht zufrieden, zu blass und zu kaltschweißig ist der kräftig gebaute Geschäftsmann. Vor ein paar Monaten sah er noch

deutlich gesünder aus. Jetzt zeichnet sich der arrhythmische Puls sich an den Halsgefäßen ab. Der Hausarzt veranlasst eine Blutentnahme und ein EKG. Weil dieses eine absolute Arrhythmie und eine ST Hebung zeigt, wird aus dem HNO Besuch heute nichts. Wochen später, als der Patient schon längst wieder aus der Klinik entlassen ist, steht er mit einem Blumenstrauß vor der Rezeption. Der Arzt freut sich und denkt:

 

„Was hätte wohl eine App gemacht? Und was macht der Patient dann mit seinem Blumenstrauß?“

 

Wenn es nach unserem Gesundheitsminister geht, hätte der Patient erstmal eine App konsultiert und diese hätte die Überweisung nach einigen digital beantworteten Fragen bewilligt. Denn natürlich würden notorische Überweisungsabholer in kürzester Zeit lernen, die Fragen so zu beantworten, dass sie auch ohne lästige Untersuchung schnell zu dem Facharzt

kommen, von dem sie annehmen, er sei der richtige. Das kann in manchen Fällen durchaus klappen, aber viel

zu oft wird es kostbare Zeit kosten und zu gefährlichen Situationen führen.

 

Die Erfahrung des Arztes, aber auch seine körperlich sinnliche Wahrnehmung – wie Hautkolorit, Puls, aber auch der Geruch und das Verhalten des Patienten – führen Ärzte und Psychotherapeuten oft zur richtigen Diagnose. Das ist in fast allen Disziplinen so und dieser von Wissen und Erfahrung gespeiste intuitive Erkenntnisvorgang ist ein sehr mächtiges Instrument.

 

Nicht jeder Kollege mag dieses Instrument nutzen oder sich darauf verlassen. Und in manchen Fällen dürfte ein strukturierter Fragebogen oder auch eine digitale Abfrage eine gute Ergänzung des persönlichen Arztkontakts sein.

Aber nur darauf zu setzen, kann gefährlich sein, nicht nur für die Gesundheit der Patienten, sondern auch für das Arzt-Patienten-Verhältnis und letztlich damit auch für den wirtschaftlichen Erfolg der Praxis.

 

Wie das geht, konnte ich vor kurzem bei einer meiner langjährigen Zuweiserpraxen aus einer entfernten norddeutschen Stadt beobachten. Den Praxisinhaber kannte ich schon lange. Ich konnte mitverfolgen, wie er nach Gründung seiner Hausarztpraxis im täglichen Praxisbetrieb wuchs und sich in vielen Gebieten fortbildete.

 

Er war ein selbstbewusster Kümmerer mit hoher Fachkompetenz, der eine zunehmende Schar von Patienten von sich begeisterte. Vor einiger Zeit verkaufte er die Praxis an zwei Kollegen, die natürlich einiges änderten, aber es dabei doch vielleicht etwas übertrieben.

 

Alte Patienten beklagten, dass sie nicht mehr angehört und ernstgenommen wurden, Einwände nicht diskutiert wurden. Einer fasste es so zusammen: „Ständig muss man irgendwelche Bögen ausfüllen, es geht nur noch um irgendwelche „Scores“. Ich habe das Gefühl, die sehen ihre Hauptaufgabe in Verwalten, Abwiegeln und Kostensparen“

 

Ich erklärte ihm, dass das durchaus auch notwendige Aspekte des Arztberufes sind. Wir waren uns aber einig, dass der Arztberuf sich darauf nicht reduzieren lassen darf. Jedenfalls haben die meisten Patienten dieser Praxis inzwischen den Rücken gekehrt. Das Vertrauensverhältnis ist perdu.

 

Die Übertreibung des Standardisierens und Schematisierens birgt daher auch eine große Gefahr für das Bild, dass die Menschen von uns haben. Wollen wir als souveräne Ärzte wahrgenommen werden, oder nur als Verwalter und Abhaker? Nicht immer bin ich mit der Antwort der Kollegen einverstanden.

 

Wer z.B. glaubt, dass das schematische Abhaken von „Red Flags“ ausreicht, um beim Rückenschmerz gefährliche Pathologien zu identifizieren, hat nicht kapiert, worum es dabei ursprünglich ging. Listen, Schemata, und Algorithmen haben ihre Berechtigung in Ergänzung zu einer ärztlichen Untersuchung, aber sie können sie nicht ersetzen. Sie helfen dem Arzt, nichts Wichtiges zu vergessen, aber nach dem Ausfüllen eines Fragebogens geht es erst richtig los. Das muss, wie in dem Anfangsbeispiel beschrieben, gar nicht lange dauern.

 

Bei Ärzten, die ihren Job gut machen, kulminiert ihr gesamtes, über Jahre erarbeitetes Wissen in dem kurzen Augenblick der Untersuchung. Ein Arzt, der seine Weiterbildung ernstgenommen und genutzt hat, verfügt über ein großes  Hintergrundwissen und er ist deshalb in der Lage, auch intuitiv richtige Entscheidungen zu treffen.

 

Wenn bei diesen Entscheidungen schwere Erkrankungen erkannt oder verhindert werden, bewirkt das die Glücksgefühle und die Motivation, die die meisten Mediziner antreibt. Wenn die Ärzteschaft sich diese Kompetenzen aus der Hand nehmen ließe, würde das unsere Tätigkeit entleeren und zu einem frustrierenden Geschäft machen.

 

Der gebildete und aufmerksame Arzt ist das, was nahezu jeder Patient will. Niemand will, dass irgendeine Krankheit übersehen wird, weil nicht an sie gedacht wird.

 

Natürlich ist Häufiges häufig, aber die Spezialitäten zu kennen und zu wissen, ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass der Patient Vertrauen haben kann, wenn sein Arzt sagt: „Es ist alles in Ordnung“. Doch leider ist die Bequemlichkeit und die fehlende Frustrationsbereitschaft beim Warten die andere Seite des Wollens vieler Patienten. Daher würden die Apps schon ihre Kunden finden. Und nicht bei jedem dürften die Maschinenkollegen falsch liegen. Aber die, die eine Fehldiagnose trifft, werden bedauern, nicht lieber einen echten Arzt aufgesucht zu haben.

 

Deshalb werden die Apps – anders als die Schachcomputer – auf Dauer gegen den Menschen den Kürzeren ziehen.

Sie werden ein wunderbares Geschäft für die Lieblingsunternehmer des Gesundheitsministers werden, aber das Ansehen einer ärztlichen Diagnose und Therapie werden die digitalen Diagnosen und Ratschläge nicht erlangen – vorausgesetzt allerdings, dass wir Ärzte nicht selbst agieren und handeln wie eine App.

 

11.09.2021 06:13, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/214154