Dieser Grundsatz der christlichen Seefahrt kommt ganz ohne Gendersternchen aus und ist vermutlich auch deswegen so eingängig. Ursprünglich half er beim Überleben auf großen Segelschiffen. Ihn zu beachten lohnt sich aber auch für diejenigen, die ihre Arbeit nicht in den Rahmen eines Windjammers ausüben.
Dass man nicht nur seine Pflicht und Arbeit zu leisten hat, sondern sich auch selbst schützen muss, ist eine Weisheit, die für viele Berufe Gültigkeit hat – auch für Ärzte und Ärztinnen sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Der übereifrige Jungmatrose, der die Eigensicherung vergisst und seine beiden Hände dem Schiff widmet, läuft Gefahr, aus der Takelage zu fallen. Bei den Angehörigen der Gesundheitsberufe geht es eher um Burnout Prophylaxe.
Gesundheitsberufe sind für Burnout prädestiniert
Denn für Burnout sind die Gesundheitsberufe besonders prädestiniert. Wir behandeln Menschen und ohne eine gewisse Mindestausprägung des Helfersyndroms kann man unsere Arbeit nicht machen. Aber die Tätigkeit an sich birgt die Potenz, dass man es übertreibt, vor allem am Anfang des Berufswegs.
Hinzu kommt – auch das ist durchaus eine Parallele zu kernigen Matrosen – ein weit verbreitetes Gefühl der Unverletzlichkeit. Uns kann nichts passieren. Wir stehen per definitionem auf der anderen Seite der Spritze und
des Rezeptblocks.
Doch die Umstände der Tätigkeit führen irgendwann zu einer Ernüchterung, die jeder für sich verarbeiten muss.
Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass Patienten nicht nur arme, erduldende Leidende sind, sondern vor allem eigenständige Personen, die deshalb auch mit allen Vorzügen aber auch den Fehlern
der menschlichen Spezies versehen sind. Die ständige Begleiterin des Helfersyndroms ist daher die Klage über den „fordernden Patienten“.
Das Nachlassen des anfänglichen Idealismus und sein Herunterdimmen auf ein praktisches Normalmaß ist kaum zu vermeiden. Die Art und Weise, wie man diese Aufgabe schafft, entscheidet
wesentlich über die Zufriedenheit im Beruf. Wer sich chronisch überfordert, wird diese schwerlich erlangen. Sich für sein Eigeninteresse zu schämen oder es komplett zu negieren, kann
auf Dauer nicht gesund sein.
„Nein“ – ein wichtiges Wort
Zu den wichtigsten Lektionen, die man bei diesem Entwicklungsprozess zu absolvieren hat, gehört es, auch einmal „Nein“ sagen zu können. Man muss rechtzeitig lernen, dass man nicht allen Forderungen von Patienten nachkommen muss, und das möglichst, ohne sich dabei zu verspannen. Die heftig angeforderte MRTÜberweisung, das Rezept über das neue Medikament aus der Apothekenrundschau, das 88. Rezept über Krankengymnastik – diese Wünsche müssen nicht bedient werden und es nützt dem Patienten sogar, wenn sein Arzt aus eigenem Urteil entscheidet und sich nicht drängen lässt.
Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich von Patienten, aber auch von Kollegen, schief angeguckt wurde, weil ich lieber das günstige Diclofenac verschrieb als das teure Vioxx. Das endete
natürlich schlagartig, als dieses Medikament vom Markt genommen wurde. Genauso ging es auch mit der prophylaktischen Verschreibung von H2-Blockern bei Ibuprofengabe. Es macht kein
gutes Gefühl, wenn man sich – z.B. in einem schwachen Moment – von einem redegewandten Patienten zu einer Verschreibung überreden lässt, hinter der man nicht voll steht. Es wird noch
ärgerlicher, wenn diese Verschreibung irgendwann zu einem Regress führt.
Nach der Übertreibung kommt der Frust
Ich habe Kollegen erlebt, bei denen der Idealismus nach solchen Erlebnissen „umkippte“. Sie benutzten danach, um im Bild zu bleiben, beide Hände für den Mann oder die Frau, ohne dass für das „Schiff“ noch viel Nutzen übrigblieb. Auch diese Strategie kann den Burnout nicht aufhalten, sondern eher beschleunigen. Es gibt nur ein Mittel dagegen: das richtige Maß zu finden.
Daran zu arbeiten, fällt schon schwer, wenn es nur um einen selbst geht. Aber fast noch schwerer (aber noch wichtiger) ist es, dies auch für seine Kollegen zu akzeptieren. Das fiel mir an mir selbst auf, als ich mich über einen Kollegen ärgerte, der zwar medizinisch völlig korrekte Befunde erstellte, aber bei der Besprechung mit den Patienten meist sehr kurz angebunden war. Irgendwann wurde mir klar, dass diese Knappheit seine Strategie war, trotz möglichst guter inhaltlicher Arbeit, noch zeitlich und damit auch finanziell über die Runden zu kommen. Der Ärger darüber, dass er mit seinen Patienten weniger sprach, als ich es tun würde, schwand augenblicklich.
Selbstschutz auch den Kollegen zugestehen
Man sollte – das ist mein Plädoyer - nicht nur mit sich, sondern auch mit seinen Kollegen etwas gnädiger sein.
Wie oft hört man im Kollegenkreis, dass geschimpft wird – über den Konsilarzt mit der langen Warteliste oder den Hausarzt, der keine neuen Patienten mehr aufnimmt. Dabei sind dies möglicherweise einfach nur Methoden, sich vor Überforderung zu schützen.
Darüber nachzudenken lohnt sich, und zwar nicht nur, weil man für den Jahreswechsel dringend noch ein paar gute Vorsätze braucht. Sondern vor allem, weil wir, wenn alle so kritisch übereinander denken, uns nur selbst noch mehr unter Druck setzen und der Überforderung Tür und Tor öffnen. Auch die Patienten haben von der harten internen Kritik keinen Vorteil. So wie das Schiff ohne Matrosen nicht manövrieren kann, so haben die Patienten keinen Nutzen von frustrierten, überforderten und ausgebrannten Ärzten.
30.12.2021 10:16, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG
Quelle: https://www.aend.de/article/216015