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Kindergesundheit für Olympia – Ist es das wirklich wert?

Baron Coubertin, der Vater der neuzeitlichen Olympischen Spiele, wollte die „Jugend der Welt“ zum sportlichen Wettkampf rufen und so dem Frieden unter den Völkern dienen. Die letzten Tage zeigen erneut, dass dies nicht allzu gut funktioniert.

 

Schon 1936 missbrauchte Adolf Hitler den olympischen Gedanken für seine Propaganda – und zwar sehr erfolgreich.

Die nächsten Spiele auf deutschen Boden - in einer Zeit des Aufbruchs und der Liberalität – begannen hoffnungsvoll und wurden durch den Anschlag palästinensischer Terroristen auf das israelische Team geprägt - und durch die Entscheidung,

die Spiele trotz der Morde fortzuführen.

 

Die Spiele in Moskau 1980 wurden überschattet durch die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan und den Boykott der westlichen Staaten, die folgenden 1984 in Los Angeles durch den Gegenboykott der Ostblockstaaten.

Die Instrumentalisierung der Spiele durch die Politik gehörte schon immer zu den Spielen ebenso wie Doping, politische Boykotte und die immer mehr zunehmende Kommerzialisierung.

 

Auch bei den Spielen in der Antike war das nicht anderes. Es gab Doping ebenso wie die politische Instrumentalisierung. Alexander der Große, das Vorbild aller größenwahnsinnigen Invasoren, förderte die Spiele und nahm daran teil, sein Vater soll im Wagenrennen gewonnen haben.

 

Trotzdem konnte man sich in den letzten Jahrzehnten das olympische Spektakel immer wieder einmal mit Vergnügen ansehen. Man fieberte mit den eigenen Athleten, oder mit besonders sympathischen und attraktiven- und nicht zuletzt auch mit den Außenseitern und tragischen Verlierern – Cool Runnings eben.

 

Doch diesmal mochten sich – zumindest bei mir – beim Zuschauen nicht einmal Spuren von Freude einstellen.

Die Spiele in Peking waren das Trostloseste, was man sich an Sportveranstaltung überhaupt vorstellen kann.

Die rigiden Coronaregelungen der Chinesen färbten die Spiele in ein trauriges Grau. Neben der Virusbekämpfung dienten sie auch der systematischen Benachteiligung möglicher Konkurrenten aus dem Ausland. Die Sportler wurden in einer von der Bevölkerung hermetisch abgekapselten Blase gefangen gehalten und konnten nicht einmal ansatzweise in die Kultur des Gastgeberlandes eintauchen. Für viele Athleten ist gerade dieses Erleben des fremden Landes und der Kontakt mit der Bevölkerung und anderen Sportlern eine der Haupttriebfedern für die Teilnahme an den Olympic Games.

In Peking wurde ihnen dieses Erlebnis, der Lohn für ihre jahrelangen Anstrengungen, vorenthalten.

 

Doch die Tristesse ließ sich noch steigern. Als der russische und der chinesische Diktator sich Schulter an Schulter den Fotografen der Welt präsentierten, konnte sich jeder, der nur ein wenig Sinn für die Wahrnehmung von Körpersprache hat, seinen Reim auf die vorhergehenden Gespräche machen. Vermutlich hatte Putin dem chinesischen Präsidenten dabei auch noch versichert, dass er mit der von ihm beschlossenen Invasion noch ein paar Tage warten könne, bis die Spiele in Peking beendet sind.

 

Der Umgang mit der chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai, die sich naiverweise über die Zudringlichkeiten eines hohen Kaders beschwert hatte, trug noch weiter zum Mißlingen und zum Grauen an den Pekinger Winterspielen bei. Eine unrühmliche Rolle spielte dabei erneut der Vorsitzende des Internationalen Olympischen Komitees, der ehemalige Adidas-Manager Thomas Bach, als er mit der Sportlerin ein Gespräch führte, in dem die chinesische Führung exkulpiert wurde. Von der jungen Frau wird man nichts mehr hören. Ihren Rücktritt vom Tennissport musste sie selbst ankündigen, ohne das Bach weiter nachfragte.

 

Doch auch dieses Erlebnis der unheimlichen Art ließ sich noch steigern.

 

Die Dopingaffäre um Kamila Walijewa, mit 15 Jahren die beste Eiskunstläuferin der Welt, erlaubte tiefe Einblicke in die Abgründe der industriell organisierten „Produktion“ von kindlichen Olympiasiegern. Obwohl Walijewa 8 Wochen zuvor bei einer Dopingkontrolle auf das Medikament Trimetazidin positiv getestet war, durfte sie bei den Eiskunstläufen teilnehmen und lieferte zunächst eine grandiose Leistung ab. Erst nach ihrem Sieg wurde die positive Dopingkontrolle bekannt, woraufhin ein tagelanges Gezerre um ihre weitere Teilnahme einsetzte. Die daraus entstandene Stresssituation wäre auch von einer erwachsenen Sportlerin nur schwer zu bewältigen gewesen. Erwartungsgemäß bot das Mädchen bei ihrem nächsten Auftritt ein Bild des Jammers.

 

Als wäre das nicht genug, wurde die Welt Zeuge wie sie danach von ihrer Trainerin, der für ihre brutalen Methoden bekannten Eteri Tutberidse, in rauem Ton angegangen wurde. „Warum hast du alles so aus den Händen gegeben? Warum hast du aufgehört zu kämpfen? Erklär mir das! Nach dem Axel hast du es aus den Händen gegeben.“ Statt Trost setzte es schwere Vorwürfe, weil der nationale Auftrag nicht erfüllt wurde.

 

Katharina Witt, die das Ganze im TV kommentieren musste, konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. "Das was jetzt passiert ist, ist das Allerschlimmste. Sie ist daran zerbrochen. Sie ist ein 15-jähriges Kind, die musste da raus gehen. Ich finde, man hat sie jetzt der Welt zum Fraß vorgeworfen. Alle Welt hat zugeschaut und daran musst du zerbrechen." "Sie ist in dem ganzen Spiel komplett die Verliererin, ein 15-jähriges Mädchen" Witt weiß, wovon sie spricht, sie war selbst Opfer und Vorzeige-Athletin der DDR-Sportförderung. 

 

Die Kindheit wird geraubt

 

Um in den koordinativ so anspruchsvollen Sportarten wie Eiskunstlauf und Kunstturnen (aber auch im Ballett) Leistungen auf dem Niveau zu erbringen, das heute bei internationalen Wettkämpfen zu Spitzenplätzen befähigt, müssen die Sportler schon seit frühester Kindheit täglich immense Trainingsumfänge absolvieren. Die kleinen Sportler müssen dabei nicht nur auf eine normale Kindheit verzichten und strenge Diäten einhalten. Es kommt in einem hohen Prozentsatz auch zu körperlichen Schädigungen wie z.B. Spondylolysen durch extreme und repetitive Hyperlordosierungen. Noch gravierender sind die seelischen Schäden. Eine einseitige Fixierung auf hoch gesetzte sportliche Ziele setzt die Kinder unter Druck. Ihre Interessen vereinseitigen. „Ich kenne kein Leben ohne Eislaufen.“, sagte die Goldmedaillengewinnerin Anna Schtscherbakowa (mit 17 Jahren schon „alt“ in diesem Sport).

 

Zu den seelischen Folgen gehören auch Schuldgefühle, nicht genug Einsatz gezeigt zu haben. Magersucht ist

weit verbreitet.

 

Eine andere russische Eiskunstläuferin, Julija Lipnizkaja, musste ihre Anorexie in einer Klinik in Israel behandeln lassen, was zum Ende der Karriere mit 17 Jahren führte. Christoph Becker beschreibt in einem Artikel der FAZ mit dem Titel „Sie zerstören ihre Körper in Putins Auftrag“ diese und viele andere hier zitierte Beispiele für die russische Sportförderung.

 

Unfairer Wettbewerb zugunsten von Diktaturen

 

Ich will gar nicht leugnen, dass es auch in freien Ländern derartige Exzesse gibt. Auch hier gibt es überehrgeizige Eltern, denen der erwartete Ruhm ihrer Kinder so wichtig ist, dass sie die seelischen und körperlichen Schäden in Kauf nehmen. Aber rechtlich und moralisch gilt in offenen Gesellschaften dieser Diebstahl der Kindheit als Kindesmissbrauch, während er in den einschlägigen Diktaturen als erwünschte Erziehung zur Härte gefordert und gefördert wird. Es ist daher keine Wunder, dass die Goldmedaillen in den koordinativ extrem anspruchsvollen Disziplinen mit Präferenz an Athleten totalitärer Staaten gehen.

 

Die deutsche Eiskunstläuferin Nicole Schott kontrastierte die tagesfüllenden Trainingsumfänge der Russinnen mit ihren eigenen. Sie habe täglich „zwischen 45 und 90 Minuten am Tag“ trainiert. Angesichts des Elends der minderjährigen Sportlerinnen vertritt Katharina Witt die Meinung: „Es ist Zeit für diesen Sport zu überlegen, ob es nicht eine Altersgrenze geben muss."

 

Das wäre zumindest ein erster Schritt, der allerdings das Problem der Kinderarbeit für den Leistungssport nicht beheben würde. Denn die zu hohen Trainingsumfänge in früher Kindheit treiben das Leistungsniveau auf eine Spitze, das für Sportlerinnen mit halbwegs normaler Sporterziehung kaum zu erreichen ist. Die autoritären Länder setzen daher falsche und missbräuchliche Maßstäbe, die den Konkurrenzdruck für Alle antreibt. Neben dem Staatsdoping ist diese Art der kindlichen Sportförderung ein weiteres Element eines unfairen Wettbewerbs. 

 

Industriell organisierte Produktion von Kinder-Athleten

 

Man muss dabei bedenken, dass sich das bisher Gesagte nur auf die Stars, also die Gewinner der nationalen Konkurrenzen, bezieht. Hinter jeder zarten Eiskunstläuferin oder Turnerin auf dem olympischen Parkett stehen hunderte unbekannte junge Menschen, die die gleiche Erziehung genossen, die gleichen Skelettveränderungen und den gleichen seelischen Schaden erlitten haben, aber ohne jemals in das ersehnte Rampenlicht der Öffentlichkeit zu gelangen.

 

Die Situation bei den Kindersportlern ist also ganz anders als den Erwachsenen. Während letztere die freie Entscheidung haben, kann bei einem Kind von einer freien Entscheidung zum Verzicht auf die Kindheit keine Rede sein. Kinder lassen sich nicht nur leicht begeistern, sondern auch manipulieren und unter Druck setzen. Offene Gesellschaften setzen hier mehr oder weniger klare Grenzen für den Ehrgeiz der Eltern, die komplett geschlossenen spielen stattdessen auf der gesamten Klaviatur. 

 

Brauchen wir Olympia?

 

Da mag die Eisprinzessin noch so perfekt ihre Kreise ziehen, beim Gedanken an die menschlichen Kosten, die ihr und anderen dafür aufgelegt wurden, kann man sich darüber nicht unbefangen freuen. Für einen Sportmediziner hätten die Winterspiele in Peking eigentlich ein einziges Fest sein müssen. Tatsächlich habe ich mir kaum etwas angesehen. Dabei habe ich die Spiele noch nicht einmal boykottiert, ich hatte einfach keine Lust zum Zuschauen. Dieses Konglomerat von Kommerz, Propaganda und Friedensheuchelei war kaum zu ertragen.

 

Wir müssen uns fragen, ob es nicht besser wäre, man würde dieses Trauerspiel beenden und auf diese

Olympischen Spiele verzichten. Die sportliche Welt braucht einen Neuanfang, der den Interessen der Athleten

und der Jugend der Welt mehr entspricht!

 

28.02.2022 10:38, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/216999