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Ärger an der Rezeption – mit der Gil-Ofarim-Methode

Der Sänger Gil Ofarim sorgte im Oktober 2021 für einen Skandal, über den sogar die New York Times berichtete.

Er behauptete in einem Video, dass er in dem Leipziger Hotel Westin antisemitisch beleidigt worden sei.

Ein Mitarbeiter des Hotels habe ihn aufgefordert, seine Kette mit einem David-Stern abzulegen.

 

Das Video ging viral und löste eine Welle der Empörung aus. Vor dem Hotel wurde sogar demonstriert.

Der Hotel Mitarbeiter, mit dem Ofarim in Streit geraten war, wurde öffentlich angefeindet, in sozialen Netzwerken

bedroht und von seinem Arbeitgeber beurlaubt. Da beide Beteiligten Strafanzeige stellten, ermittelte die Polizei.

Zusätzlich beauftragte das Hotel-Management eine unabhängige Kanzlei mit internen Ermittlungen.

 

Jetzt brach der angebliche Antisemitismus-Skandal von Leipzig in sich zusammen, wie der „Spiegel“ berichtete.

Offensichtlich hat es sich völlig anders zugetragen, als von Ofarim behauptet. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen den Hotel-Mitarbeiter ein und ermittelt jetzt gegen den Sänger wegen falscher Beschuldigung. Der „Spiegel"-Artikel

und das dazugehörige Video sei jedem zur Lektüre empfohlen.

 

Sie zeigen, dass es hier nicht um Antisemitismus geht, sondern um einen eskalierten Streit über eine vermeintliche Bevorzugung in einer Warteschlange. Dieser Fall ist sehr schlecht für den Kampf gegen Antisemitismus und

Diskriminierung - ein „Bärendienst“ zweifelsohne.

 

Doch die Seite hat auch einen positiven Aspekt. Denn erstmalig ist ein Verhalten minutiös mit Videoaufnahmen

und Zeugen-Aussagen rekonstruiert worden, das sich in der Republik jeden Tag tausendfach in ähnlicher Weise, wenn auch nicht immer so extrem, abspielt.

 

Drängeln als Sport

 

Denn Drängeln und Streiten an Rezeptionen entwickelt sich anscheinend immer mehr zum Volkssport, ebenso

wie das Bedrohen und Falschbeschuldigen der Angestellten, die hinter den Rezeptionstischen sitzen.

Die Opfer aggressiver Drängler und Falschbeschuldiger sind in der Regel Menschen, die nicht unbedingt zu den Besserverdienenden gehören und für die Probleme, für die sie beschimpft werden, in den allerwenigsten Fällen

etwas können. Dabei ist es egal, vor welcher Rezeption die Schlange steht, ob es die eines Hotels, eines Flughafens ist oder auch nur die Käsetheke im Supermarkt.

 

Narzissmus und Warten

 

Immer gibt es einige Menschen, die nicht warten können und wollen; und es vor allem für unter ihrer Würde halten, warten zu müssen. Es sind nur wenige, keineswegs die Mehrheit der Wartenden. Aber ein oder zwei aggressive Drängler können den Beschäftigten emotionalen Stress bereiten, der für den ganzen Tag reicht – und oft genug auch für eine schlaflose Nacht.

Dabei geht es beim Drängeln nicht um den Kampf um lebensnotwendige Güter. Das Gerangel beim Verteilen von knappen Hilfsgütern nach einem Erdbeben irgendwo in der Dritten Welt ist zwar ein Zeichen schlechter Organisation und Vergeudung von knappen Ressourcen. Aber es ist vom Standpunkt des Einzelnen irgendwie noch verständlich.

 

Beim Gedrängel vor den Rezeptionen hingegen geht es nur um die narzisstische Kränkung und um den eigenen Status. Der Vornehme, Wichtige und Gute wird vorgelassen. Das ist die Prämisse, die den Drängler in der Warteschlange antreibt. Und mit der Zunahme des Narzissmus in der Gesellschaft steigt naturgemäß die Anzahl derjenigen, die sich für so hervorragend und bedeutend halten, dass das Einreihen in eine Schlange ihnen nicht zu zumuten ist. Und wenn Narzissten das Gefühl haben, andere würde ihnen gegenüber bevorzugt, kann die Lunte sehr kurz und die Explosion heftig sein.

 

Warten in der Arztpraxis

 

Es besonders explosiver Ort sind die Rezeptionen von Arztpraxen. Was hier oftmals abläuft, spottet jeglicher Beschreibung. Die Beschimpfung von Medizinischen Fachangestellten, die immer wieder auch einmal bis zur Bedrohung reicht, ist einer der Gründe, warum so viele MFA den Beruf verlassen und warum es so schwerfällt, qualifizierten Nachwuchs zu finden.

Natürlich spielt dabei immer auch das Thema „Kasse oder Privat“ eine Rolle. Aber Stress beim Warten gibt es in nicht gerade geringem Ausmaß auch in Praxen, die überhaupt keine Privatpatienten behandeln, und immer mal wieder auch in reinen Privatpraxen.

 

Für mein Buch „Wahnsinn Wartezeit“ habe ich mich auch intensiv mit den Phänomen des Drängelns in einer Warteschlange beschäftigt. Ein Nebeneffekt dieser Beschäftigung: Seitdem stört mich persönlich Wartezeit noch weniger als zuvor, ich nutze sie zur Entschleunigung und für meine privaten anthropologischen Studien. Nach meiner Erfahrung läuft es oft so ab wie in dem Leipziger Hotel. Denn es ist inzwischen ziemlich häufig, dass ungeduldige Drängler sich lautstark darüber beschweren, diskriminiert worden zu sein. Typische Vorwürfe sind nach meiner Einschätzung Ausländerfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit, aber auch Frauenfeindlichkeit oder Rassismus. Ich habe es in der eigenen Praxis auch schon erlebt, dass den Frauen an der Rezeption vorgeworfen wurde, sie seien „blonde Nazis“, was schon allein wegen der buntgewürfelten Truppe ziemlich absurd und sehr bösartig war.

 

Diskriminierungsvorwürfe als Waffe

 

Dabei will ich nicht bestreiten, dass man sich auch immer wieder einmal zurecht über die Leute hinter einer Rezeption ärgern kann. Es gibt genügend Muffelköppe und Desinteressierte unter Rezeptionisten aller Branchen, zumal die Jobs ja oft nicht gut bezahlt sind. Aber die Diffamierung von ganzen Ethnien oder Gruppen von Menschen erlebt man -zumindest hier im hanseatischen Norden (und anders als in meiner Jugend) so gut wie nie – mit einer Ausnahme. Behinderte und sehr alte Menschen haben es oft schwer an den Rezeptionen und Verkaufstresen. Da wird dann auch einmal die hochgebildete Neunzigjährige behandelt wie ein Kleinkind, weil sie am Wurststand ein paar Sekunden länger benötigt, bis sie das Wechselgeld in ihrem Portemonnaie gefunden hat. Aber auch in diesem Fall geht es schon wieder um Eile, Hetze und Drängeln. Vielleicht fürchtet der Rezeptionist auch nur den Zorn der Narzissten hinter dem Langsameren. 

 

„Dann geht das auf Facebook und Instagram- bamm, bamm, bamm!“

 

Eine besonders perfide Form, gegen die Leute an der Rezeption vorzugehen, besteht darin, die falschen Beschuldigungen öffentlich zu machen. Früher hieß der Klassiker: „Das schreibe ich an die Bild-Zeitung“. Diese Drohung konnte man gelassen sehen, denn die Zeitung will ja noch gelesen werden. Aber heutzutage haben die Streitsüchtigen ganz andere Machtmittel in den sozialen Medien. Damit drohte laut Spiegel auch Ofarim.  „Dann geht das auf Facebook und auf Instagram- bamm, bamm, bamm!“

 

Eine ähnliche Rolle spielen Google-Bewertungen und – das betrifft vorwiegend die Arztpraxen – auch alle

möglichen Arztportale, allen voran Jameda. Nach meiner Erfahrung ist die instrumentelle Nutzung von -oft völlig abstrusen – Vorwürfen inzwischen ein sehr häufig genutztes Mittel bei Streitigkeiten und in Auseinandersetzungen. In der eigenen Praxis gab es z.B. Fälle von Schmähbewertungen einer Ärztin, weil diese einen Medikamentenmissbrauch aufdeckte und den parallelen Bezug von Rezepten verschiedener Ärzte beendete.

 

Deshalb hat mich das Ergebnis der polizeilichen Untersuchungen im Falle Ofarim in keiner Weise überrascht.

Der im „Spiegel“ beschriebene Ablauf ist fast idealtypisch. Es beginnt damit, dass der so wichtige Sänger im Halteverbot vor der Hoteltür aus dem Auto steigt. Dann sieht man das Warten, den Konflikt mit einem Mitarbeiter, die Erregung. Dem Arzt kommt das alles sehr bekannt vor. Auch, dass C-, D- oder F-Prominente wegen des bei ihnen im Übermaß vorhandenen Narzissmus zur Hochrisikogruppe für Wartestreit gehört, scheint sich hier wieder einmal zu bestätigen.

 

Diese Gruppe Menschen plagt oft eine gewaltige Unzufriedenheit aufgrund eines Missverhältnisses von Ego und Erfolg. Während Abi Ofarim, den Vater des Sängers, zu seiner Zeit fast jeder kannte, ist Gil Ofarim eher ein kleines Licht. Ich selbst habe von ihm zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Leipziger Skandal gehört. Jetzt hat er für die kurzfristige Befriedigung seiner Geltungssucht möglicherweise seine Karriere zerstört. Aber eine „Hoffnung“ bleibt. Die Tour, Rezeptionisten mit Falschbeschuldigungen zu quälen, könnte als „Gil-Ofarim-Methode“ in den Sprachgebrauch eingehen

 

09.04.2022 15:46, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/217624