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Wird die Inflation zum Praxiskiller?

Die Inflation ist zurück. Mit 5,8 Prozent erreichte sie einen ersten, im wiedervereinigten Deutschland bisher nicht erreichten Höhepunkt, klettert gerade auf über 7 Prozent und wird bald zweistellig sein. Arztpraxen trifft das besonders hart – und die ambulante Versorgung gerät damit in Gefahr. 

 

Die Gründe für das Comeback der Geldentwertung sind vielfältig: Ganz vorne die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und das faktische Ende der Schuldenbremse in der Coronapandemie. Geld wurde mit der Gießkanne verteilt, für Sinnvolles ebenso wie für puren Nonsens. 

 

Inflation ist daher kein drohendes Gespenst, sondern die neue Realität. Zu den besonders betroffenen Gruppen gehören Ärzte und Psychotherapeuten. Und deren Betroffenheit hat direkte Auswirkungen auf die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung. Ein wichtiger Grund für diese Vulnerabilität ist die verzögerte Auszahlung der kassenärztlichen Honorare. Den Psychotherapeuten und Ärzten wird der größte Teil ihres Honorars erst ein halbes Jahr nach dem Ende des Quartals auf ihr Konto überwiesen. Allein dadurch sind sie den Folgen der Inflation stärker ausgesetzt als Berufsgruppen, die ihr Geld sofort nach Ablieferung ihrer Leistung erhalten.

 

Solange die Inflationsrate einstellig ist, dürfte dieser Effekt noch klein sein. Aber bei zweistelligen Inflationsraten bedeutet die Verzögerung von einem halben Jahr, dass sich das Honorar schon um mindestens 5 Prozent gegenüber dem Zeitpunkt der Leistungserbringung entwertet hat. Noch viel stärker ins Gewicht fällt allerdings, dass ärztliche und psychotherapeutische Honorare seit Jahrzehnten keinen angemessenen Inflationsausgleich erfahren haben.

 

Bei der Recherche für mein Buch „Wahnsinn Wartezeit“ habe ich dazu überraschende Ergebnisse gefunden. Danach stagnierten die Honorarumsätze aller Praxen in der Zeit von 2000 bis 2015. Für einige Fachgruppen gab es innerhalb dieser

Zeitspanne sogar eine nominale Absenkung der Honorare. Sie mussten in dieser Zeit zusätzlich zum fehlenden

Inflationsausgleich Honorarminderungen hinnehmen. Zwar sind in den letzten Jahren die Honorare ein kleines bisschen gestiegen, allerdings nicht aufgrund eines gewährten Inflationsausgleiches, sondern weil die Leistungsträger noch mehr Leistungen erbringen, vor allem im Zusammenhang mit dem Terminservice-Gesetz und der Impf-Kampagne.

 

Seit mehreren Jahrzehnten gibt es für Ärzte keinen Inflationsausgleich

 

Ärzte können ihr Honorar nicht frei aushandeln, sondern sind abhängig von einer Gebührenordnung und damit von politischen Entscheidungen. Und wie es aussieht, ist die Politik nicht bereit, den Ärzten einen Ausgleich für die Entwertung des Geldes zu zahlen. Das merkt man am kassenärztlichen EBM ebenso wie an der privaten Gebührenordnung GOÄ.

 

Die Preise der GOÄ stammen von 1988 und wurden nur ein einziges Mal, nämlich 1996, mit einem kleinen Inflationsausgleich von 3,6 Prozent aufgestockt. Somit bilden die Gebührenziffern der GOÄ immer noch die Preise von 1996 ab, die schon damals einen geringeren Realwert darstellten als die Originalpreise von 1988. Spätestens dieses Beispiel zeigt, dass die Verweigerung eines Inflationsausgleichs kein Zufall und kein Versehen ist. Offensichtlich ist man in der Politik der Meinung, dass die ärztlichen Honorare sowieso zu hoch sind, und freut sich über die Möglichkeit, sie durch den „natürlichen Inflationsverlauf“ absenken zu können. 

 

Bei anderen Akteuren des Gesundheitswesens sieht es anders aus. Für die Kliniken hat die Politik immer ein offenes Ohr und die Sozialfachangestellten der Kassen müssen sowieso nicht darben.

 

Es kann auch einfach gehen

 

Interessant wurde es in diesem Jahr bei den Taxifahrern und Krankentransportunternehmen, die unter den hohen Spritpreisen besonders leiden. Sie drohten, ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen zu können. Die Frage war, ob die Kassen und die Politik einlenken würden? Ich war selbst sehr überrascht, wie einfach und unproblematisch das funktionierte. Schon kurz nach der Drohung, die Transporte einzustellen, erklärte eine Sprecherin der AOK Sachsen-Anhalt: „Ab Mittwoch können unsere Vertragspartner für Krankenfahrten neun Cent pro Besetzt-Kilometer für die Hin- und Rückfahrt oder 16 Cent pro Besetzt-Kilometer bei einfachen Fahrten mit uns abrechnen. Es ist eine sofort wirksame und unbürokratische Lösung - ein Antrag ist nicht notwendig.“ Die Barmer zog sofort nach und erklärte: „Wir erkennen den akuten Handlungsbedarf infolge der kurzfristig stark angestiegenen Treibstoffkosten an“.

 

Ärzte und Psychotherapeuten können von so viel unbürokratischer Hilfe nur träumen. Sie bleiben der Inflation ausgeliefert. Durch den fehlenden Inflationsausgleich schlagen die im Laufe der Jahre steigenden Kosten voll durch. Nur wenige Bürger wissen das. Wenn man seinem Anwalt bei Verhandlungen über einen neuen Mietvertrag erklärt, dass man eine an die Inflationsrate gekoppelte Staffelmiete auf keinen Fall akzeptieren will (was man unbedingt tun sollte!), kann es einem passieren, dass er das etwas übertrieben findet und sagt: „Aber bei höherer Inflation steigen doch auch Ihre Einnahmen.“

 

Ja, das gilt für fast alle, bloß eben nicht für die Ärzte. Die Gebührenordnung der Anwälte etwa ist seit 1982 mehrfach angehoben worden, mit dem Steigen der Fallwerte gibt es sogar einen gewissen automatischen Inflationsausgleich. Der öffentliche Dienst würde sich ohne regelmäßigen Inflationsausgleich sowieso bedanken. Noch besser haben es die Mitglieder des Deutschen Bundestages. Ihr Einkommen steigt automatisch mit den Durchschnittslöhnen: Von 6876 Euro im Jahre 2002 auf 10055, also um 68 Prozent. Hinzu kommen noch verschiedene Pauschalen.

 

Inflation wird zur Existenzbedrohung für Praxisinhaber

 

Für die Praxen der Ärzte und Psychotherapeuten hingegen wird die stärkste Inflation seit Bestehen der BRD zu einer Existenzbedrohung und damit zu einer Gefährdung der ambulanten Gesundheitsversorgung, weil ihre Kosten steigen und ihre Einnahmen stagnieren. Viele Praxen werden durch den Inflationsdruck in akute finanzielle Schwierigkeiten kommen, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird, so wie bei den Taxifahrern.

 

Vor allem aber dürfte die Suche nach Praxisnachfolgern noch schwieriger werden. Das wird den Ärztemangel und auch die Übernahme von Arztpraxen durch Krankenhäuser und Investmentgesellschaften rasant befördern. Das Beispiel der Taxifahrer zeigt, dass es hier eine schnelle und bürokratisch sparsame Lösung gibt: Die Arztpraxen benötigen sofort Zusatzzahlungen, um die Folgen der Inflation abzufedern. 

 

Sofortige Zahlungen zum Inflationsausgleich könnten Kollaps der ambulanten Versorgung verhindern 

 

Das ließe sich technisch einfach durch eine Erhöhung der Punktwerte im EBM und der GOÄ bewerkstelligen. 

Dass die Politik von allein nicht auf diese Idee kommen wird, dürfte nicht sehr überraschen. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass diese Forderung schon aus reiner Gewohnheit von den Politikern aller Parteien abgelehnt werden wird.

Aber von den Ärztekammern und KVen wird man verlangen können, dass sie den Gedanken eines sofortigen Inflationsausgleichs für die Praxen mit hoher Energie und Lautstärke in der Öffentlichkeit vertreten. Denn sonst könnte es für viele Praxen bald zu spät sein. Der hohe Inflationsdruck gefährdet Praxen und damit die Gesundheitsversorgung.

 

Die ebenso akute wie dramatische Bedrohung durch die Geldentwertung könnte durchaus auch gegenläufige und damit positive Folgen hervorrufen: Jahrzehntelang haben Ärzte sich für Gegenmaßnahmen – und auch für die Mitarbeit in den Selbstverwaltungen – wenig interessiert. Es lief ja immerhin noch alles ganz gut. Das neue Inflationsszenario könnte möglicherweise auch hier eine kleine „Zeitenwende“ hervorrufen.

 

08.05.2022 08:18, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/217996