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Was heutige Ärzt:innen von Flaubert lernen können?

Der Bundestag hat beschlossen: Jetzt dürfen auch Apotheker impfen und auf diese Weise ein wenig Arzt spielen. Wie soll man bloß als Arzt darauf reagieren? Für eine groß angelegte Kampagne erscheint dieser Tabubruch angesichts der Weltlage möglicherweise zu klein dimensioniert. Lobbyismus für Ärzte klappt nicht annähernd so gut wie der für Apotheker. Jammern hat keinen Stil, substanzbasierte Coping-Strategien wie Eigenmedikation und Alkohol sind ungesund. Was also tun?

 

Mein Vorschlag: Lesen Sie einfach einmal wieder ein gutes Buch. In Zeiten des Apothekenimpfens bietet sich dafür ein bekanntes Stück der Weltliteratur an, der Roman „Madame Bovary - Sitten in der Provinz“. Der Autor Gustav Flaubert wäre im letzten Dezember 200 Jahre alt geworden. Um so überraschter werden diejenigen sein, die das Buch noch nicht kennen. Wirklich erstaunlich ist nämlich, dass der Text eines 200 Jahre alten Autors zumindest in einer bestimmten Hinsicht noch

brandaktuell ist.

 

Der erste Arztroman

 

Flaubert schuf mit seinem Roman eine stilbildende, gnadenlose Analyse des trostlosen Kleinstadtlebens im Frankreich des 19. Jahrhundert, die seit 2012 in der Übersetzung von Elisabeth Edler auch auf deutsch ein literarisches Meisterwerk ist. Vermutlich erfand Flaubert damit auch den ersten Arztroman.

 

Allerdings nicht in dem Sinne der 50er- und 60er-Jahre Groschenromane, in denen die Sehnsucht der berufslosen Hausfrau bedient wurde, durch die Heirat mit einem wohlhabenden und angesehenen Ehemann den sozialen Aufstieg zu schaffen und fortan beim Bäcker mit „Frau Doktor“ angeredet zu werden. Eher im Gegenteil.

 

Die Titelheldin Emma Bovary entflieht der Enge und dem Schmutz des bäuerlichen Elternhauses, indem sie den verwitweten Dorfarzt Charles Bovary ehelicht. Sie kann damit durchaus als Prototyp der literarischen Figur der „Arztehefrau“ gelten, die fortan in keinem Arztroman fehlen durfte. (Erst später gesellten sich in dieser „Kunstform“ weitere häufig eingesetzte Personae dramatis hinzu wie der weise Chefarzt, die grummelige Oberschwester und der schicke Assistenzarzt.)

 

Aber anders als im klassischen Arztroman der 50er-Jahre ist die Hauptfigur - Madame Bovary - zwar erfüllt von romantischen Vorstellungen, die noch angefeuert werden durch die Schundliteratur, der sie sich hingibt. Aber der Roman beschreibt das Scheitern dieses „Lebensentwurfs“ und den Ruin sowohl von Madame wie Monsieur.

 

Eine andere Sicht auf die Hauptperson

 

Viele Literaturkritiker standen eher auf Seiten der Emma Bovary und ihrer romantischen Sehnsüchte (z.B. Marcel Reich-Ranicki). Bedingt durch den nicht parteinehmenden Stil Flauberts kann man als Leser seine Sympathien aber auch anders verteilen. So wirkt die Protagonistin auf mich nicht unbedingt sympathisch. Die attraktive, dabei reizbare und sprunghafte Frau, die unter verschiedenen Krankheitssymptomen leidet, die man heute als Fibromyalgie-Syndrom bezeichnen würde, wendet sich schon bald von ihrem Gatten ab. Sie verachtet ihn, weil er als Mann nicht viel her macht, z.B. weder schwimmen noch schießen kann. Die Folgen sind außereheliche Affären, Lieblosigkeiten und schließlich der wirtschaftliche Ruin des Ehepaares. Flaubert beschreibt also genau die Frau, um die man(n) lieber einen großen Bogen machen sollte.

 

Fast wirkt der Roman so, als wäre er eine Illustration des früher oft zu hörendem Urteils von Niederlassungsberatern: „Als Arzt können Sie nur pleite gehen, wenn Sie sich scheiden lassen.“ Lange Zeit bildete diese Seite der Romanhandlung, also die Geschichte einer klassischen „Versorgerehe“, die Gegenwart noch erschreckend gut ab. Doch das gilt zunehmend weniger, zum Teil ist der Roman schon jetzt nur noch historisch interessant. Zukünftige Generationen werden ihn möglicherwiese kaum noch verstehen. 

 

Denn die klassische Hausfrau ohne eigenen Beruf gibt es fast nicht mehr, der soziale Aufstieg aus eigener Kraft ist für beide Geschlechter die selbstverständliche Normalität, der durch Heirat eher die Ausnahme. Vor allem aber hat sich eines geändert. „Der Arzt“ von heute ist ziemlich oft eine Ärztin. Die Medizin ist weiblich geworden. Würde jemand ein Remake für die heutige Zeit schreiben, so würde es vermutlich „Monsieur Bovary“ heißen und es wäre interessant zu sehen, welche Attribute in diesem Remake für den Ärztinnen-Ehemann vorgesehen wären.

 

Was sowohl Ärztinnen als auch Ärzte angeht, so können diese inzwischen auch durch vielerlei andere Gründe in die Pleite geraten als durch eine Scheidung. Es ist daher nicht sehr verwunderlich, dass die „Arztfrau“ in der boulevardesken Folklore eine immer geringere Rolle spielt. Sie verblasst zunehmend neben neuen Figuren romantischer Projektionen, wie z.B. der „Spielerfrau“. Im Übrigen ist Flaubert nicht einseitig. Er reserviert die negative Seite nicht exklusiv für die Hausfrau mit dem

Drang zu Höherem. Auch der Arzt kommt nicht gut weg. Er ist ein ungelenker Stoffel, der mit Mühe das Examen geschafft hat und dessen medizinische Anfangserfolge vor allem auf Zufall und Glück beruhten. Hier kommt ein wesentliches Stilmittel Flauberts zum Ausdruck. Er wechselt oft und fast unmerklich die Perspektive, beschreibt die eine Episode vom Standpunkt der Ehefrau und die nächste von dem des ärztlichen Ehemanns.

 

Das Ergebnis ist eine brillante und unterhaltsame Analyse, die aber für den Leser mit dem „Nachteil“ behaftet ist, dass man sich eigentlich mit keiner Figur richtig identifizieren kann und, fast wie in einer modernen Fernsehserie, mit kaum einer Hauptperson Mitleid empfinden mag – vielleicht am ehesten noch mit dem hilflosen Mediziner, wäre dieser nicht ebenso spießig wie einfältig. Gerade als er beginnt, sich in seiner kleinen Gemeinde zu etablieren, lässt er sich von seiner Frau drängen, in einen weiter entfernten und nur wenig größeren Ort zu ziehen, in dem er kaum Patienten gewinnt.

 

Der Apotheker im Roman

 

Das liegt nicht zuletzt an dem Apotheker des neuen Wohnortes, dem Monsieur Homais. Er ist der Grund dafür, dass dem neuen Arzt die Patienten fehlen. Denn der Apotheker begnügt sich nicht mit dem Verschreiben von Medikamenten, er hält auch regelmäßig Sprechstunden in seiner Apotheke ab. Und das war auch damals nicht erlaubt.

 

Der eingangs behauptete Gegenwartsbezug des Romans beruht auf diesem Nebenstrang der Handlung und der darin enthaltenen realistischen Schilderung des Verhältnisses von Arzt und Apotheker. „Er hatte gegen das Gesetz vom 19. Ventose des Jahres XI verstoßen, welches in Artikel 1 jedem, der nicht über ein entsprechendes Zeugnis verfügt, die Ausübung der Medizin untersagt; und so war Homais aufgrund finsterer Denunziationen nach Rouen zitiert worden vor den Königlichen Staatsanwalt, in sein Privatkabinett.“ Doch – das ist dann wieder wie heute – letztendlich kommt der rührige Apotheker ungeschoren davon. Er führt nach anfänglichem Schrecken seine heimlichen Sprechstunden fort - mit immer größerem Erfolg. Denn er verfügt über Charisma und ist ein Mann des Fortschritts. Die Wissenschaft verehrt er in geradezu

pseudoreligiöser Manier. Auch damit käme er heute zurecht.

 

Überflüssige Operationen damals wie heute

 

Der Fortschritt äußerte sich übrigens auch damals schon in grandiosen Operationen. Weswegen der Apotheker Homais und die ebenso frustrierte wie anerkennungssüchtige Arztgattin den tumben Dorfarzt Bovary dazu bewegen, eine neuartige Klumpfuß-Operation durchzuführen. Patient und späteres Opfer ist der Stallknecht Hippolyte. Natürlich haben Apotheker und Arztfrau nur die allerbesten Absichten. Schließlich geht es darum, durch diese Operation den Fortschritt in ihr kleines Dorf zubringen. Der Arzt soll dabei ihr williges Werkzeug sein.

 

Dummerweise hat der Doktor diese neuartige OP vorher noch nie gesehen, geschweige denn durchgeführt. Er ist auch kein Chirurg und hat nie operiert. Aber schließlich lässt er sich vom Apotheker und von seiner Frau Emma dazu überreden, das „Experiment“ dieser OP zu wagen. Auch der Patient selbst, der vorher trotz seines Klumpfußes munter umhersprang, wird von den beiden in einem geschickten Vorgehen so manipuliert, dass er der Operation zustimmt.

 

Flauberts kennt sich aus

 

So wird ein Fachbuch bestellt, in dem die Operation genau beschrieben wird. Man kann nicht sagen, dass der Arzt sich keine Mühe gibt, denn er studiert das Buch, so gut er kann. Dann schreitet er mit großer Aufregung zur Tat. Die Wunde infiziert sich binnen Kurzem, der ehedem muntere Stallbursche stirbt fast am Wundbrand. Schließlich muss ein Chirurg aus dem Nachbarort eine Oberschenkelamputation durchführen. Flaubert wusste, wovon er schrieb; sein Vater war Chefarzt des Krankenhauses in Rouen.

 

Von allen Figuren in diesem Roman erregt dieser Stallknecht am meisten mein Mitleid, zumal diese kleine Nebengeschichte leider ein weiteres Beispiel für die anhaltende Frische des Romans ist. Das Phänomen, unnötige Operationen durchzuführen, die der Operateur nicht sicher beherrscht, existierte anscheinend schon vor 150 Jahren.

 

Arzt und Apotheker

 

Hochaktuell ist die Analyse des Verhältnisses des Dorfarztes zum Apotheker Homais. Heute wie damals wollen anscheinend viele Pharmazeuten nicht nur mit Medikamenten handeln, sondern auch behandeln. Die Lehre, die man 2022 aus der Lektüre des Romans ziehen kann, lautet: Dieses Problem ist uralt. 

 

Dabei ist die Trennung von Apotheker und Arzt eine conditio sine qua non für die Unabhängigkeit des verschreibenden Arztes. Wenn der Arzt durch Verbandelung mit dem Apotheker seine Unabhängigkeit aufgibt, hat das für seine Patienten schlechte Folgen. Wenn der Apotheker mehr sein möchte als nur ein Pharmazeut und zusätzlich noch die ärztliche Tätigkeit ausüben will, gibt es keine Unabhängigkeit der Verschreibung mehr. Der Patient kann nicht sicher wissen, ob das Medikament aus medizinischer Notwendigkeit oder aus Geldgier verschrieben wurde.

 

Heutzutage gibt es zwar eher seltener heimliche Sprechstunden in der Apotheke, aber dafür die Beratung am Verkaufstresen und vor allem natürlich die Apothekenrundschau, die die Nachfrage nach den Handelsgütern der Apotheke verstärkt oder hervorruft. Das alles ist nicht verboten. Im Gegenteil, die Politik macht sich 200 Jahre nach Flaubert daran, die traditionelle

Trennung von Handel und Behandlung in Frage zu stellen. Während damals der Pharmazeut immerhin noch streng verwarnt wurde, werden die Apotheker im Mai 2022 explizit ermächtigt, die Heilkunst auszuüben.

 

La Prudence est de mise!

 

Die Aufforderung an die Pharmazeuten, sich an Impfungen zu beteiligen, ist der erste Schritt, um das Prinzip unabhängiger Medikamentenverschreibung auch de jure aufzuweichen. Das Ganze hätte dem Apotheker Homais gut gefallen, wäre es doch Fortschritt und dann noch einer zu seinem Vorteil. Würde er im Mai 2022 leben, stünde er selbstverständlich an vorderster Front der Apotheker-Impfkampagne und wegen des Fortschritts wäre er auch für das elektronische Rezept. Bedenken gegen die Digitalisierung wären „second“.

 

Zumindest in Flauberts Roman war das Eindringen des Apothekers in die Sphäre des Arztes für diesen von Übel. Dem Dr. Bovary bringt sie den wirtschaftlichen Ruin, seine Frau begeht Suizid, er selbst stirbt vor Kummer.

 

Der Roman endet mit den Zeilen:

„Seit Bovarys Tod folgten einander drei Ärzte in Yonville, bekamen jedoch keinen Fuß auf den Boden, so prompt

schlug Monsieur Homais sie in die Flucht. Seine Kundschaft wächst höllisch; die Obrigkeit schont ihn und die

öffentliche Meinung schützt ihn. Seit kurzem hat er das Kreuz der Ehrenlegion“

 

22.05.2022 12:41, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/218203