Ärztetage finden nicht nur in der Öffentlichkeit wenig Beachtung, auch die meisten Ärzte nehmen nur wenig Anteil an den dort geführten Debatten. Das liegt weniger an Desinteresse, sondern daran, dass es nur zu einem sehr kleinen Prozentsatz um Dinge geht, die das tägliche Leben und Überleben in den Praxen und Kliniken betrifft. Stattdessen werden diese „Parlamente der Ärzteschaft“ gerne für hochtrabende und abgehobene Debatten benutzt nach dem Motto „lieber Gender statt GOÄ“.
Zur Ehrenrettung des Ärztetages sei gesagt, dass es dieses Jahr auch um die Gefahren der Digitalisierung ging, aber wieder einmal viel zu spät und völlig konsequenzlos. Auch die Homöopathie-Weiterbildung wurde endlich in den Ruhestand verabschiedet.
Aber ein zentrales Thema, das alle Ärzte essentiell betrifft, konnte nicht inhaltlich diskutiert werden: Die GOÄ-Reform.
Die bleibt in der Staubwolke der BÄK-Heimlichtuerei verborgen. Zwar wurde zum Abschluss des Ärztetages ein von Norbert Smetak et.al. eingebrachter Antrag verabschiedet, der die BÄK
auffordert den Entwurf zur GOÄ-Reform bis Ende des Jahres zu finalisieren. Auch ein Antrag von Wieland Dietrich (Freie Ärzteschaft) et.al. wurde angenommen, der die massive
Bewerbung von Abgeltungsvereinbarungen empfiehlt. Das sind schon große Fortschritte gegenüber früheren
Ärztetagen.
Doch das Hauptproblem bleibt bestehen. Eine Diskussion über den GOÄ-Entwurf kann nicht stattfinden, weil außer einem kleinen exklusiven Zirkel kaum jemand diesen Entwurf kennt. Dass die Entwürfe zur GOÄ nicht bekannt sind und damit auch nicht Gegenstand einer Diskussion sein können, während gleichzeitig ihre schnelle Umsetzung gefordert wird, macht den Ärztetag fast gespenstisch absurd.
Vor allem weil dem Gesundheitsminister dieser Entwurf schon vorab als brikettdickes Papierkonvolut feierlich überreicht wurde und dieser ihn gar nicht erst zur Kenntnis nehmen wollte. Diejenigen hingegen, die den Entwurf nur zu gerne endlich lesen würden, dürfen es nicht und erst recht durften sie auf dem Ärztetag nicht über den Inhalt diskutieren, sondern nur über den Zeitplan. Was soll man nur davon halten, dass in einer Zeit, in der die Inflation anschwillt wie ein Tsunami, die seit Jahren geplante Reform der ärztlichen Gebührenordnung nicht zur Diskussion gestellt wird. Transparenz ist das
jedenfalls nicht.
Einerseits war die GOÄ kein Thema, aber andererseits doch ständig präsent – und zwar in Form der Empörung darüber, dass der Inhalt der neuen GOÄ für den Gesundheitsminister genauso wenig ein Thema ist wie für den Ärztetag. Der eine legt das dicke Buch beiseite, die anderen haben es nicht. Als normaler Praxis- oder Klinikarzt hat man eigentlich keinen Grund, sich über Lauterbachs abweisende Haltung zu echauffieren. Niemand von uns hat doch auch nur Auszüge dieser neuen GOÄ gelesen. Das bleibt den Mitgliedern einer kleinen Funktionärskaste vorbehalten.
Man kann als normaler Arzt von der Basis also gar nicht wissen, ob es schlecht oder womöglich sogar sehr gut ist, dass die GOÄ von der jetzigen Regierung nicht angefasst wird. Vieles spricht dafür, dass wir alle froh sein können über das Desinteresse von Lauterbach. Wenn die Rede davon ist, die alte GOÄ „bilde die moderne Medizin nicht mehr ab“, dann spricht das jedenfalls dafür, dass die neue GOÄ mehr als eine gruselige Überraschung enthalten dürfte.
Denn für Ärzte hat die GOÄ ja nicht den Mangel, dass bestimmte Leistungen in ihr nicht vorkommen, sondern dass alle Leistungen, die in ihr enthalten sind, die Preisschilder von 1982/1996 tragen. Neue Leistungen könnte man ja bequem in den Leistungskatalog eingliedern. Aber es geht offensichtlich darum, im Gegenzug zur Neuaufnahme neuer Leistungen andere Leistungen abzuwerten oder ganz zu streichen. Zumal die Verhandler BÄK und Privatversicherer ja schon vorab entschieden haben, dass die neue GOÄ keinen Inflationsausgleich bieten soll, sondern nur einen kleinen Mini-Zuschlag auf das Gesamthonorar enthalten dürfe.
Wenn das Ziel der GOÄ Reform darin bestehen soll, neue komplexe Leistungen abzubilden und gleichzeitig weitgehend „kostenneutral“ zu bleiben, dann besteht die Reform der GOÄ nicht in der längst überfälligen Anpassung an das Preisniveau der Gegenwart, sondern in einer grandiosen Umverteilung.
Neue technisch anspruchsvolle Leistungen werden höher bewertet, während Grundleistungen, die in den Praxen erbracht werden, einen Preisverfall erleiden dürften. „Ja, ja“ wird es aus der BÄK heißen, „es gibt eben Gewinner und Verlierer bei solchen Reformen“. Es wäre schon ein Wunder, wenn es nicht die gleichen sind wie sonst auch.
In diesem Fall sind nicht einmal die liquidationsberechtigen Chefärzte der Kliniken die Hauptprofiteure, sondern vor allem ihre Arbeitgeber. Denn neue Chefarztverträge werden meist so verhandelt, dass Privateinnahmen ganz oder zum größten Teil bei den Klinikträgern landen. Daher dürfte die neue GOÄ vor allem eines bewirken: eine gigantische Umverteilung der Privateinnahmen hin zu den Klinikbetreibern. Klar, dass dies zu Ungunsten der freiberuflich tätigen Ärzte gehen wird.
Ärzte, die keine Privatpatienten haben, vor allem angestellte Ärzte in den Kliniken, werden vielleicht mit den Schultern zucken. Sie könnten glauben, dass es ihnen egal sein kann, wie die Behandlung von Privatpatienten honoriert wird.
Doch so zu denken wäre ein riesiger Fehler. Denn die Erfolge, die Klinikärzte in den letzten Tarifverhandlungen erreicht haben, gründen nicht nur auf der guten gewerkschaftlichen Organisation. Die spielt natürlich auch eine Rolle.
Aber eines der stärksten Druckmittel, über das angestellte Ärzte verfügen, ist das Vorhandensein von echten Alternativen zur Lohnabhängigkeit. Dass sich Ärzte in eigener Praxis niederlassen können, trägt sehr zur Marktmacht der angestellten Kollegen bei. Es ist wie ein System kommunizierender Röhren. Wenn sich die Niederlassung durch den Wegfall der Privateinnahmen zu einem Minusgeschäft entwickeln würde, bricht diese Alternative weg. Dann wird es nicht lange dauern, bis die angestellten Ärzte dies schmerzlich auf ihrem Gehaltszettel spüren werden.
Irgendetwas in diesem GOÄ-Reformprojekt ist anscheinend völlig schiefgelaufen. Vielleicht spielt der Eine oder Andere auch ein falsches Spiel. So manche sü.e und attraktive Verheißung kann sich schnell als blutsaugendes Monstrum entpuppen. Deswegen wäre es völlig absurd, wenn Ärzte - ob in der Praxis oder in der Klinik – die Umsetzung dieser GOÄ-Reform fordern, ohne sie überhaupt zu kennen.
Jeder Arzt in Deutschland muss die Möglichkeit haben, jetzt und sofort die Entwürfe zur GOÄ einsehen zu
können. Die Ärzte müssen wissen, was darin steht. Die neue GOÄ muss raus aus der Twilight-Zone!
28.05.2022 12:43, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG
Quelle: https://www.aend.de/article/218309