· 

Wir Ärzte als Schmerzpatienten

Jahrzehntelang verharrten die Praxisumsätze von Kassenärzten auf einem niedrigen Niveau ohne Inflationsausgleich. Unter dem Gesundheitsminister Spahn wurden sie erstmals ein wenig erhöht. Dieser kleine Anstieg war allerdings kein Inflationsausgleich, sondern der Preis und der Anreiz für die erheblichen Eingriffe in die interne Praxisorganisation durch das

Terminservicegesetz. Man musste kein Hellseher sein, um schon damals zu ahnen, dass diese Wohlverhaltensprämie bei nächstmöglicher Gelegenheit wieder kassiert werden würde.

 

Jetzt ist es soweit. Die Leckerlis werden aus dem TSVG gestrichen, während die Apportieraufgaben bleiben. Zudem sollen Ärzte und andere Leistungserbringer, wenn es nach Politik und AOK geht, im nächsten Jahr eine Nullrunde drehen. Ein Ausgleich der höchsten Inflationsraten seit Jahrzehnten ist für Ärzte – anders als für Angestellte des öffentlichen Dienstes – nicht vorgesehen.

 

Unglücklicherweise haben wir Ärzte mit dem chronischen Schmerz über unsere Unterbezahlung auch viele Einstellungen und Verhaltensweisen chronischer Schmerzpatienten angenommen. Zu diesen Eigenschaften gehören:

  • der Verlust von Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, selbst etwas an seiner Lage ändern zu können.
  • „Alles-oder-Nichts-Denken“
  • „Katastrophisieren“
  • die Fokussierung auf den Schmerz, die andere Gedanken und Themen immer mehr verdrängt
  • sozialer Rückzug
  • und nicht zuletzt: Angst vor Bewegung.

Schon lange glaubt kaum ein niedergelassener Arzt ernsthaft daran, noch irgendetwas aus eigener Kraft gegen die Zerstörung der ambulanten Medizin bewirken zu können. Eine Minderheit hegt zwar immer wieder Pläne von großen Streiks, die das Gesundheitswesen lahmlegen würden. Doch sehr realistisch ist das nicht. Auch das ist ähnlich wie bei vielen Schmerzpatienten, die immer wieder glauben, dass eine einzelne große Handlung sie erlösen könnte: die Wirbelsäulenversteifung, die Ayurveda-Kur auf einem abgelegenen Eiland oder der Besuch beim besten Orthopäden weit und breit…

 

Die eine große Aktion, die die schmerzhafte Geschichte des Niedergangs der ambulanten Medizin beendete, ist

jedenfalls weit und breit nicht zu erkennen. Da die Hoffnungen darauf – oder vielleicht besser diese Phantasien - sich nie erfüllen, führt auch das im Endergebnis nur zu neuen Frustrationen. Gemessen an den ganz großen Hammeraktionen ist jede kleine Maßnahme schon a priori blamiert.

 

Das wichtigste Argument für die Öffentlichkeit

Die ökonomische Lage der Praxen ist schlimm, sie führt dazu, dass sich für viele Praxen keine freiberufliche Nachfolger mehr finden werden. Diese Lücke werden Investorenketten und Klinik-MVZ füllen – mit dem Ergebnis, dass unser  Gesundheitswesen schon bald nicht mehr wiederzuerkennen sein wird. Das ist das stärkste sachliche Argument dafür, dass die Mindereinnahmen der Praxen negative Wirkungen für alle Bürger und nicht nur für den individuellen Verdienst der Ärzte haben. Dieses Argument ist aber in der Gesellschaft keineswegs angekommen, es vorzutragen daher das Gebot der Stunde.

 

Völlig falsch wäre jedoch die katastrophisierende Darstellung, dass die Ärzte als Gesamtgruppe am Hungertuch nagen würden. Immer noch kann man in bestimmten Gebieten und mit kluger Strategie mit einer Arztpraxis sehr gut Geld verdienen, allerdings mit einer großen Gruppe von Arztpraxen eben nicht mehr. Das Problem der Unterbezahlung ist daher kein absolutes, sondern ein relatives. Doch damit ist es keineswegs nichtexistent. Im Gegenteil. Die beschriebenen Folgen auf das ambulante Gesundheitswesen treten ein, weil die Anstrengung, das Risiko und der Marktwert von Ärzten in einem groben Missverhältnis zum Salär stehen. Das sollte die Gesellschaft wissen und verstehen.

 

Es bringt Ärzten auch nichts, sich nur in eigenen Kreisen zu bewegen und am Stammtisch und in Foren über das Schicksal zu lamentieren wie die Schleudertrauma-Leute auf ihren unseligen Websites. Ärzte können ihre Interessen nur dann effektiv vertreten, wenn sie in die Gesellschaft hineinwirken. Und dazu müssen sie sich auch mit den anderen Leistungserbringern im Gesundheitswesen zusammenschließen, deren Einkommen ebenfalls an der eigenen Arbeit hängt – wie Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Medizinischen Fachangestellten. Auf andere Gruppen hinabzublicken („Medizinische Hilfsberufe“) ist da nur kontraproduktiv.

 

Pacing – genau das Richtige bei Angst vor Bewegung

Wäre man der Schmerztherapeut der Ärzte, so hätte man also viel zu tun. Wahrscheinlich bräuchte es ein multimodales Vorgehen. Aber es ist wie im richtigen Leben. Das bekommt man ja meistens nicht. Zumal betäubende und euphorisierende Substanzen auch in diesem Fall mehr schaden als nützen dürften. 

 

Deshalb wäre es vielleicht eine gute Idee, sich ein wenig an schmerztherapeutischen Basismaßnahmen zu orientieren. Zum Beispiel könnte man ein wenig mit Bewegung beginnen. Bei meinen Schmerzpatienten benutze ich ein „Pacing-Protokoll“. Die geforderte Dosis an Bewegung orientiert sich an dem Level, auf dem der Patient sich jetzt befindet, nicht an irgendwelchen Ideal-Vorgaben. Dieses Ausgangslevel ist oft erstaunlich niedrig. Wir sprechen dann von „Dekonditionierung“. In dem wir niedrig, fast unterfordernd mit Aktivitäten beginnen, vermeiden wir Frust durch Überforderung. Die Steigerung funktioniert bei denjenigen, die sich darauf einlassen (und das sind nicht wenige) erstaunlich gut.

 

Ich befürchte bei uns Ärzten ist das Widerstandsniveau ähnlich niedrig wie das Aktivitätsniveau bei den chronifiziertesten Schmerzpatienten. Das sollte man berücksichtigen, wenn man über den Vorschlag diskutiert, an einem Mittwoch im September die Arbeit in den Praxen für zwei Stunden ruhen zu lassen. Ich gebe zu, dass ich, als ich davon hörte, erst einmal laut lachen musste. Aber je länger ich darüber nachdachte, fand ich , dass diese Proteststunden überhaupt keine schlechte Idee und uns mehr als angemessen sind.

 

Es geht nicht um Streik – es geht um Öffentlichkeit

Es geht ja nicht darum, irgendwelchen faktischen Druck durch Arbeitsverweigerung und Streik aufzubauen. Um das zu erreichen, müsste man mehrere Tage, eher mehrere Wochen, die Praxen flächendeckend schließen. Das ist utopisch. Daher muss man eigentlich nicht mehr machen als zwei oder wegen mir auch eine Stunde. Denn so eine Proteststunde kann, wenn nur genügend Kollegen mitmachen, durchaus ein probates Mittel sein, die Öffentlichkeit zu erreichen. Wenn unsere Argumente überhaupt einmal in den Focus der Öffentlichkeit kämen, wären wir einen wichtigen Schritt weiter.

 

Um Aufmerksamkeit für die Anliegen der Ärzte zu finden, ist eine kurze Praxisschließung sogar besser geeignet als eine traurige Minidemo mit weißen Kitteln auf dem Marktplatz. In der Praxis profitieren wir von unserer Autorität. Vor allem, wenn wir uns mit unseren Angestellten vor die Rezeption stellen und unsere Patienten informieren. Wenn es nur eine Stunde dauert, halten sich die Kosten an Zeit und Geld in Grenzen. Mehr würde für diesen Zweck gar nichts bringen. Die Akzeptanz unter den Kollegen dürfte steigen, wenn die Hürde nicht so hoch ist.

 

Viel wichtiger als die Dauer so einer Protestmaßnahme sind die Argumente und unsere Sprache. Der Aufruf zum Protesttag ist in dieser Hinsicht durchaus verbesserungswürdig. Wenn man den Aktionstag am 7. September zu einem Erfolg machen könnte, ließe sich wie beim „Pacing“ die Dosis in kleinen Schritten erhöhen. Man könnte so einen Mittwoch einmal im Monat machen und versuchen eine Dynamik wie in den Montagsdemonstrationen in der alten DDR zu erreichen.

 

Man könnte intermittierend die Notfallsprechstunden ausfallen lassen und zwar am besten geschlossen als Fachgruppe. Dann wären in einem Monat die Orthopäden, in einem anderen die Urologen dran. Die Praxen und die Kollegen wären damit nicht überfordert, aber die öffentliche Wirkung wäre schon relativ groß. 

 

Luft nach oben ist immer

 

Alles das ließe sich natürlich immer mehr steigern. Es muss aber jetzt hier nicht ausgeführt werden – wir sind ja nicht beim HSV, der immer schon von der Championsleague träumt, wenn er gerade mal wieder nicht abgestiegen ist.

 

Denn wichtig ist es bei Schmerzpatienten wie bei Kampf-entwöhnten Ärzten, erst einmal klein anzufangen.

Das ist keine Garantie für den Erfolg, aber seine notwendige Bedingung.


21.08.2022 06:23, Autor: Dr. Matthias Soyka, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG

Quelle: https://www.aend.de/article/219427