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Wo bleibt der Widerstandsgeist?

 

 

Am 3. Oktober 1990 wurde die DDR aufgelöst und der Beitritt der östlichen Bundesländer in die Bundesrepublik Deutschland vollzogen. Das hätte sich jahrzehntelang niemand auch nur vorstellen können. Der Zug (zur Wiedervereinigung) schien endgültig abgefahren. Daher eignet sich das Beispiel der Wiedervereinigung heute gut als Metapher dafür, dass es lohnenswert ist, sich dem vermeintlichen Schicksal nicht ängstlich zu ergeben.

 

Ich nutze diese Metapher häufig bei Patienten, die zum Bewältigen ihrer Krankheit einen langen Atem benötigen.

Eine andere, vielleicht weniger politische und grandiose Metapher dafür kann die Nervenstärke von Spitzenmannschaften des internationalen Fußballs sein. Diese sind oft in der Lage, auch bei mehreren Toren Rückstand das Blatt noch zu wenden.

Das Resultat steht erst fest, wenn abgepfiffen wird.

 

Auch die Ärzte können mentale Kraft gerade mehr als genug gebrauchen. 

 

Die vom vorherigen Gesundheitsminister eingeführte Entbudgetierung der Honorare für Neupatienten wird vom jetzigen locker wieder einkassiert – natürlich ohne die damit einhergehenden Zumutungen wieder zurückzunehmen. Die Mehrleistungen werden weiter gefordert, das Honorar verweigert. Lauterbach entspricht damit einem Herzenswunsch

der Krankenkassen, die den Ärzten zudem weder einen Inflationsausgleich, noch Hilfen zur Bewältigung der Energiekrise zugestehen wollen. Auch hier glauben Viele, dass „der Zug schon abgefahren“ sei.

 

Während in Frankreich Ärzte wegen ähnlicher Angriffe – im Wortsinne – auf die Barrikaden gehen, sind in Deutschland nur milde Gegenmaßnahmen zu erwarten. Die KV in Hamburg z.B. ruft dazu auf, am Mittwoch dem 5. Oktober keine Sprechstunden anzubieten und die Praxen wegen Fortbildung zu schließen. Das ist ,zugegeben, keine harte Streikmaßnahme. 

 

Aber auch das Ende der DDR begann mit einem Spaziergang - an einem Montag, wie man weiß. Vielleicht könnte eine monatliche „Mittwochsfortbildung“ ein Anfang bei der Verteidigung der freiberuflichen ambulanten Medizin sein?

 

Die Investition für jeden Arzt ist dabei überschaubar. Im schlechtesten Fall hat er einfach nur einmal einen Tag Ruhe in seinem Hamsterrad gehabt und auf einer der KV-Veranstaltungen Kollegen wiedergetroffen, die er lange nicht gesehen hat. Im besten Fall bewegt sich dadurch etwas. Ich selbst habe meine KV-Zulassung bereits zurückgegeben. Der von Lauterbach und Spahn gepflegte Umgang mit den Kassenärzten war der ausschlaggebende Grund dafür. Trotzdem habe ich in der vergangenen Woche kassenärztlichen Kollegen in meinem Umfeld angeboten, meine Privatpraxis aus Solidarität ebenfalls

zuschließen, wenn sie sich an dem Protesttag der KV beteiligen würden. Ich wollte nicht indirekt von ihrer Abwesenheit profitieren. Als Arzt und Staatsbürger lässt es mich nicht kalt, dass mit den neuen Glanzleistungen von Lauterbach die freiberufliche ambulante Medizin schon wieder einen heftigen Wirkungstreffer hinnehmen muss.

 

Zu meiner Überraschung wurde mein Angebot aber nicht angenommen. Eine Reihe von Kassenärzten will sich selbst an diesem niedrigschwelligen Protest nicht beteiligen. Dafür werden die unterschiedlichsten Argumente angeführt. Es reicht von Sorgen um die verlorenen Einnahmen bis zu Aussagen über die eigene Persönlichkeitsstruktur. „Mit fast 50 fange ich damit jetzt auch nicht mehr an“. Mitunter muss man sich auch noch Sorgen um die Neuroplastizität in unserem Berufstand machen.

 

Ich halte diese Wegduckhaltung - sei sie wirtschaftlich oder persönlich begründet - für einen schweren Fehler, der schließlich allen Ärzten auf die Füße fallen wird.

 

Selbst den Kollegen, die von der „Neupatientenregelung“ nur wenig „profitiert“ haben, z.B. weil sie nur wenige Neupatienten haben, müsste sehr daran gelegen sein, dass die treuwidrige Rücknahme der partiellen Entbudgetierung in den nächsten Monaten gekippt wird. Denn für den Fall, dass Lauterbach und die Kassen mit dieser Nummer Erfolg haben, ließe sich daraus unschwer erkennen, dass man mit Ärzten so ziemlich Alles machen kann. Es wäre der endgültige Beleg dafür, dass man sich wegen der Solidarität der Kassenärzte als Politiker bei keiner Maßnahme auch nur einen Gedanken machen muss.

Derjenige, der heute von einer Lauterbach Zumutung noch nicht betroffen ist, wird es somit demnächst schon

sein.

 

Zwar waren wir schon bisher nicht die großen Kämpfer. Aber diese Treulosigkeit des Ministers und diese Chuzpe der Kassen sind bislang der Höhepunkt der Verachtung und der verweigerten Wertschätzung der Ärzteschaft. Wenn selbst in dieser Situation aus unserer Ecke kein Widerstand kommt, bleibt für die Politiker nur ein Schluss: Auch jede andere Maßnahme wird nicht auf Widerstand treffen.

 

Es lohnt sich also durchaus für jeden Arzt, der versteht, was die Stunde geschlagen hat, mit seinen Kollegen in einen freundschaftlichen Dialog zu treten, um den Widerstandsgeist etwas zu stärken. In meinen Gesprächen habe ich erfahren, dass einige Kollegen noch gar nicht wissen, was Lauterbach gerade wieder hinbekommen hat. Denn viele Kollegen verfolgen die Gesundheitspolitik schon gar nicht mehr, weil sie so in ihrem Trott gefangen sind. (Nebenbei: Es wäre schon sehr hilfreich, wenn noch mehr Kollegen den ÄND lesen würden!) 

 

Manche Kollegen haben sich möglicherweise auch nicht bewusst gemacht, dass es wenig kollegial ist, „wegen der Einnahmen“ seine Praxis zu öffnen, während viele andere diese schließen, um etwas zu erkämpfen, von dem alle profitieren würden - und zwar nicht zuletzt die Freunde „der Einnahmen“. Es ist ja noch ein Tag hin bis Mittwoch. Jeder „Fortbildungswillige“ in Hamburg und anderswo hätte also noch ausreichend Zeit, um zumindest mit einem befreundeten Kollegen zu diskutieren. Noch ist das Spiel nicht abgepfiffen!

 

 

Quelle: https://www.aend.de/article/220042