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Vae victis: Die Behandlung ukrainischer Kriegsgefangener ist eine humanitäre Katastrophe.

 

Im Juli 2022 wurden in dem russischen Kriegsgefangenlager Lager Oleniwka 52 ukrainische Soldaten durch eine Bombe ermordet. Sie waren nur wenige Tage zuvor in den Lagerkomplex verlegt worden, den kurz darauf die Explosion erschütterte.

 

Als der ukrainische Präsident Selenski dem Roten Kreuz vorwarf, die Lager nicht ausreichend zu visitieren, teilte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit, dass elf seiner Mitarbeiter, darunter ein Arzt, in der von Russland

besetzten Region Donezk für solche Besuche bereitstünden. Aber man hätte ihnen bislang die Erlaubnis verweigert, die Lager zu betreten.

 

Das IKRK verlange seit fast acht Monaten vergeblich, sämtliche Orte, an denen Kriegsgefangene interniert seien – darunter das Gefangenenlager Oleniwka – ungehindert und regelmäßig besuchen zu können.  Die Verweigerung der Besuche ist

ein Verstoß gegen die Genfer Konvention, die vorsieht, dass Kriegsgefangene einmal im Monat ärztlich untersucht werden.

Sie dürfen auch nicht in der Kampfzone, also im Zielbereich der eigenen Streitkräfte, interniert und nicht von den Einheiten bewacht werden, gegen die sie vorher kämpften. Genau das geschieht aber gerade in den russisch besetzten Gebieten der Ostukraine.

 

Bei der Bombenexplosion in Oleniwka gab es neben den Toten viele Brandverletzte, die in Krankenhäuser gebracht worden sein sollen. Über das Schicksal von vielen gibt es keine Informationen, eine postalische Erreichbarkeit für die Angehörigen,

die ebenfalls von der Genfer Konvention vorgesehen ist, ist in den meisten Fällen nicht existent.

 

Erstaunlicherweise finden diese Verstöße in der Öffentlichkeit nur wenig Beachtung, was auch daran liegen könnte, dass viele die Genfer Konvention nie gelesen haben. Es lohnt sich, den Text (z.B. als PDF auf der Seite des juristischen Fachbereichs der LMU München) anzusehen. 

 

Die dritte Genfer Konvention  

 

Die erste Genfer Konvention kam 1864 auf Initiative des Schweizer Bürgers Henry Dunant zustande, dem Gründer des Roten Kreuzes. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs, in einer kurzen Besinnungspause vor dem Zweiten Weltkrieg, wurde die Konvention erweitert und geschärft, um nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs noch einmal revidiert zu werden. Es

gibt jetzt zwei Genfer Konventionen, die sich mit Land- und Seestreitkräften beschäftigen.

 

Eine dritte Konvention beschäftigt sich mit der Behandlung von Kriegsgefangenen. Das Ziel dieser Konvention ist es, die schlimmsten Auswüchse des Leids von Kriegsgefangenen zu begrenzen, sie gilt explizit auch für Bürgerkriegsparteien

und nicht-reguläre Streitkräfte.

 

„Die Kriegsgefangenen sind jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln. Jede unerlaubte Handlung oder Unterlassung seitens des Gewahrsamsstaates, die den Tod oder eine schwere Gefährdung der Gesundheit eines in ihrem Gewahrsam

befindlichen Kriegsgefangenen zur Folge hat, ist verboten und als schwere Verletzung des vorliegenden Abkommens zu betrachten. (…) Die Kriegsgefangenen müssen ferner jederzeit geschützt werden, namentlich auch vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung, Beleidigungen und der öffentlichen Neugier. Vergeltungsmassnahmen gegen Kriegsgefangene

sind verboten.“ (Art. 13) 

 

Ganz offensichtlich scheint das von der russischen Armee systematisch missachtet zu werden.
Folter gehört nach Aussagen von Überlebenden in den Lagern zum Alltag.  

 

Die Genfer Konvention gilt für alle!

 

Besonders kritisch ist der Umgang mit dem ASOW-Regiment. Dieses galt lange Zeit als rechtsradikal bis faschistisch orientiert. In der Zwischenzeit gibt es allerdings Zweifel an dieser Darstellung. Möglicherweise handelt es sich dabei auch um

eine der vielen russischen Desinformationen.

 

In jedem Fall dürfte das Ausmaß von Menschenverachtung und Gewaltverherrlichung in diesem Regiment nicht höher sein als in den Verbänden der russischen Seite – z.B. der Gruppe Wagner oder tschetschenischen Einheiten. Unabhängig zu

überprüfen, sind diese Vorwürfe gegen das ASOW- Regiment unter den jetzigen Umständen jedenfalls nicht.

 

Genau für so eine Unsicherheit ist in der Genfer Konvention allerdings Vorsorge getroffen. Denn sie gilt für alle Kombattanten gleichermaßen, auch für „Angehörige regulärer bewaffneter Kräfte, die sich zu einer von der Gewahrsamsmacht nicht anerkannten Regierung oder Behörde bekennen“.

 

Explizit genannt werden auch „Angehörige von Milizen und Freiwilligenkorps, die zu diesen bewaffneten Kräften

gehören“.

 

Selbst die größten Halunken hätten einen Schutzanspruch. Die Bedrohung durch Folter und Einschüchterung ist für die Kriegsgefangenen des ASOW-Regiments real. Denn zur Rechtfertigungsideologie des völkerrechtswidrigen

Überfalls gehört die Geschichte von angeblichen Nazis in der Ukraine.

 

Amnesty International fürchtet daher, dass Schauprozesse vorbereitet werden, in denen auf diese Art die Invasion nachträglich „legitimiert“ wird. „Geständnisse“ könnten durch Folter erpresst werden. ("Russische Schauprozesse gegen Kriegsgefangene in Mariupol wären illegal und inakzeptabel", Pressemitteilung vom 26. August 2022.

 

Wo bleibt der ärztliche Aufschrei?


Angesichts dieser Missstände müsste ein lauter Aufschrei der internationalen Ärzteschaft zu hören sein. Doch es bleibt bemerkenswert still. Es gibt zwar einige ehrenvolle Ausnahmen. So hat der „Weltärztebund“ im April eine Resolution verabschiedet, in der er auf die Einhaltung der Standards der Genfer Konvention dringt (und auch den völkerrechtswidrigen

Einmarsch verurteilt).

 

Aber sonst ist von den üblichen ärztlichen Vertretern wenig zu vernehmen. Auf der Website der Internationalen Ärzt:innen zur Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) findet sich jedenfalls kein Wort zu dieser humanitären Katastrophe. Die von dem Kardiologen Bernard Lown und dem Arzt (und sowjetischen Gesundheitsminister) Jewgenii Tschasow gegründete  Organisation erhielt 1985 den Friedensnobelpreis.

 

Warum vermeidet sie es, sich mit einem deutlichen Wort für die Einhaltung der Genfer Konvention auszusprechen? 

 

Die Genfer Konvention ist kein Luxus

 

Die Genfer Konvention ist kein moralischer Luxus-Artikel. Es ist eine Rechtsvorschrift für die Kriegsführung,

dass die allerschlimmsten Auswüchse im Umgang mit den Unterlegenen – das „vae victis“ - mildern soll. Das Motiv für diese

Konvention hat eine – zugegebenermaßen brutale – Rationalität.

 

Denn im Krieg kann jeder zum Opfer werden. Die Verpflichtung auf gegenseitige minimale Standards kommt daher den Angehörigen aller Beteiligten Kriegsparteien „zugute“. Auch die Soldaten und Zivilisten der siegreichen Partei können in

Kriegsgefangenschaft geraten. Auch sie können das Rote Kreuz benötigen, dass sowohl als unabhängige Aufsichtsinstanz

– zum Beispiel bei der Registrierung und Identifizierung von Kriegsgefangenen – fungiert, aber vor allem natürlich bei der Organisation von medizinischer Hilfe.

 

Der inhumane Umgang mit Kriegsgefangenen muss stärker in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Das Rote Kreuz muss endlich Zugang zu allen russischen Lagern (natürlich auch zu denen der Ukraine) haben. Es braucht zudem mehr

Ressourcen. Ein elfköpfiges Team mit nur einem Arzt für alle Lager einer Region ist viel zu wenig.

 

Die Einhaltung der Genfer Konvention ist nicht nur eine Frage der elementarsten Humanität. Je mehr die Genfer Konvention

missachtet wird, um so schlechter sind die Aussichten auf einen Frieden oder Waffenstillstand. Denn jedes zusätzliche Kriegsverbrechen erschwert Verhandlungen und versperrt den Weg zurück.

 

Quelle: KVH Journal 12/2022, Seite 26/27